Archiv für den Tag: 5. Dezember 2018

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 5 #Ulli Gau

Gerne habe ich die Einladung zu diesem Projekt angenommen, doch kaum war mein „Ja“ abgeschickt, grübelte ich auch schon, was denn nun das Deutschsein sei. Wie gut, dass ich mutmaßen darf!

In der Zeitung stand unter der Überschrift >Nun erst recht!<, dass ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, dass er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein, also sei er natürlich stolz, dass er ein Deutscher wäre – >ein solcher Deutscher<, stand in der Zeitung, >ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher<.“

Zitat aus dem Buch „Der ewige Spießer“ von Ödön von Horváth 1929

Denke ich ans Deutschsein fallen mir erst einmal viele kleine Länder in einem großen ein, denke ich an verschiedene Völker in ihren Landesgrenzen, höre ihre Dialekte, denke an verschiedene Traditionen und Brauchtümer. Die allemannische Fasnacht ist kein rheinischer Karneval, zum Beispiel, beide vereint lediglich der Rosenmontag und der Aschermittwoch, mehr nicht.

Bayern wahrt seine Abgrenzung gegenüber dem Frankenland und umgekehrt, Badenser und Schwaben machen es ihnen gleich und was hat eine Saarländerin mit einer Sächsin gemein? Ja, alle sprechen Deutsch, das tun aber auch die Österreicher*innen und die Schweizer*innen. Immerhin, eine Grundsprache, aber versteht man sich deswegen auch? Herrschen Offenheit, Neugierde, leben und leben lassen in diesem kleinem Land? In mir leuchtet das Wort ABGRENZUNG in großen Lettern auf.

Wir sind viele, weil viele polnische Vorfahren haben oder französische, englische, italienische, russische, griechische, türkische, niederländische und … Es ist ein Wandern in der Welt. Schon lange, schon immer. Was eint ein Volk? Was macht ein Volk zu einem Volk?

Man sagt Deutschsein sei Sauerkraut und Eisbein, dünner Kaffee und keine Teekultur, sei Oktoberfest und Reisevolk, sei Reinlichkeit, Genauigkeit bis hin zur Pingeligkeit, sei fleißig, pünktlich und strebsam, seien Vorschriften über Vorschriften, seien Handwerkerinnungen, sei Engstirnigkeit, Hitlerzeit und Kultur. Kultur wie Hegel, Nietzsche, Beethoven, Bach, Schumann, Goethe, Schiller, Rilke, Brecht, Einstein, Freud und …

Lenin soll gesagt haben:“Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich vorher noch eine Bahnsteigkarte.“

Nationen drücken sich gegenseitig Stempel auf, Wahrheiten sind komplexer.

Preußische Pünktlichkeit, deutsche Eiche, deutsche Wertarbeit, Gartenzwerge, Disziplin, herrische Töne, Weltmenschgehabe, Arroganz bis zur Respektlosigkeit, auch das sei Deutschsein, sagt man. Man spricht aber auch von weltoffenen, freundlichen, genauen, zugewandten, toleranten, großzügigen, innovativen Deutschen – in neuerer Zeit.

Brauchtümer und Traditionen zu pflegen ist eins, das andere ist die Vielschichtigkeit. Es ist keine Seltenheit, dass ein Schwabe die Rheinländerin nicht versteht und umgekehrt. Man nennt das Mentalitäten. Bei all diesem Babylon in der Welt, und auch in Deutschland, entzieht sich mir eine Aussage über das Deutschsein. Ich schaue auf´s Menschsein.

Mercedes, BMW, VW, Bayer und … machten Deutschland zu einem reichen Land. In den letzten Jahrzehnten wächst die Armut. Nationalismus und Rechtsradikalismus sind wieder erwacht, man grübelt, man schämt sich, man fragt sich. Stolpersteine liegen fest verankert auf deutschem Asphalt.

Denke ich an Deutschland, denke ich an ein landschaftlich schönes, vielseitiges und an ein kleines Land. Und jedes Land im Land braut sein eigenes Bier und manche machen phantastischen Wein.

Ich bin hier geboren, ich kenne mich hier aus und mir ist Deutschland, wie es Peter Georges Frey so treffend formulierte, nur vertrauter als der Rest der Welt. (https://literaturfrey.com/2018/11/11/gedanken-ueber-deutschland-6/)

Was nun aber das Deutschsein wirklich ist, bleibt auch am Ende meiner Mutmaßungen offen, wahrscheinlich ein bunt gemischter Korb mit verschiedenfarbigen Kohlköpfen, Bier, Espresso, Wein, Kartoffeln, Spaghetti, Äpfeln, Gartenzwergen und … im Dirndl, mit Schwarzwaldhut auf dem Kopf und Birkenstocks an den Füßen serviert.

Text: Ulli  Gau
Blog: Café Weltenall