Archiv für den Tag: 22. Dezember 2018

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 22 #Andréa Catel de Prates Soares

Mutmaßungen über das Deutschsein

Deutschsein, das ist für mich vor allem das Beherrschen der Deutschen Sprache. Eine harsche, viel zu oft schwierige, und mit Regeln versehene Sprache – die ich trotzdem wundervoll finde. Wer die Sprache nicht beherrscht, wird Schwierigkeiten haben sich zu integrieren, Deutsche und deren Kultur kennen zu lernen.

 

In Sao Paulo, Brasilien geboren wurde ich mit 7 von meiner Mutter nach Belgien geschickt, wo meine Tante mit ihrer Familie lebte. Ihr Grund: eine bessere Schulbildung. Bevor ich nach Deutschland kam, konnte ich also fließend Portugiesisch und Französisch. Erst mit 10 bin ich nach Deutschland gekommen. Meine Tante hatte ein Stipendium für ihren Doktor und konnte sich aussuchen ob sie in Belgien bleiben, nach London oder nach München gehen wollte. Sie entschied sich für München.

 

In München war ich erstmal in einer französischen Schule. Diese Zeit betrachte ich heute noch als “Eingewöhnungszeit”, es war Deutschland und doch irgendwie nicht. Zwar hatten wir Deutschunterricht, als ich aber schließlich in eine deutsche Schule kam, konnte ich gerade mal die Grundlagen, wie “ja”, “nein”, “Guten Tag”, “Danke” und “Bitte”. Das erste Mal, dass unsere Lehrerin einen “Andreas” aufrief fühlte ich mich angesprochen – und war peinlich berührt als ich merkte es war ein Junge gemeint. Mein erster kleiner Aufsatz, ich glaube es war eine Erzählung, hatte dafür schon einen ganz deutlich bayerischen Einfluss. Statt “plötzlich klingelte es” habe ich “da glingelts” geschrieben.

 

Natürlich war es für mich als Kind einfacher Deutsch zu lernen. Klar wurde es auch schnell besser, ich musste ja in der Schule und überall Deutsch reden (da ist es wieder, das Bayerische). Allerdings hat ewig gedauert, bis ich diese Sprache in meinen Augen wirklich beherrschte. Ganze 25 Jahre waren es, und ich bin sicher, die Kommasetzung werde ich nie ganz beherrschen.

 

Irgendwann habe auch ich geheiratet. Einen Amerikaner, der Deutsch lernen musste. Schließlich haben wir in Deutschland gelebt. In seiner Naivität (es gibt kein passenderes Wort)

und nicht zuletzt, weil ich fließend Deutsch rede, dachte er, ich wüsste alle Regeln und könne ihm helfen. Allerdings habe ich mich immer wieder dabei ertappt, die eine oder andere Regel vergessen zu haben. Was ist ein Gerundium gleich wieder? Und wie geht das mit dem Genitiv?

 

Deutsch ist schwierig. Ich rede hier nicht nur von der Aussprache, die fast jedem nicht-deutschen so schwer fällt. Es gibt so viele Regeln, die man beachten muss. Grammatik, Rechtschreibung, Satzzeichen und dann auch noch das Neutrum (das schwierig zu verstehen ist, wenn man dieses Konzept gar nicht kennt).

 

Deutsch ist aber auch ungemein präzise und akkurat. In keiner anderen mir bekannten Sprache können zwei scheinbar zufällig aneinandergereihte Wörter eine Sache so genau auf den Punkt bringen. Wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass es einige Wörter im Deutschen gibt die keine Übersetzungen haben, wie Fahrvergnügen oder Schadenfreude. Deutsch ist die Sprache der Erfinder und Ingenieure, denn es werden mehr Patente auf Deutsch angemeldet als in jeder anderen Sprache. Und dann sind da noch die “Ausnahmen von der Regel”, aber selbst die machen Sinn.

 

Meiner Meinung nach fängt diese Genauigkeit in der Sprache, einschließlich ihrer Ausnahmen das Deutschsein ein. Es ist kein Zufall, dass der Stereotyp eines Deutschen mit Präzision, Pünktlichkeit und Höflichkeit zu tun hat (und auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel).

 

Ein Beispiel: die sogenannte “Work-Life-Balance”. Ein Amerikaner arbeitet anders als ein Deutscher. Es gibt sogar Studien darüber, dass Deutsche in ihren 8 Stunden Arbeit mehr “schaffen”. Deutsche lieben ihre Freizeit, die sie gerne im Freien verbringen, oder im Urlaub. Fast kein anderes Land in der Welt hat so viele Urlaubs- und Feiertage. Das alles gehört für mich zum Deutschsein dazu.

 

Deutschsein ist seine Arbeit gut zu tun und pünktlich abzugeben – während der Arbeitszeit. Deutschsein ist nach der Arbeit mit den Kollegen auf ein Bierchen zu gehen. Deutschsein ist seine Freizeit zu genießen (außer man ist Selbständig). Deutschsein ist aber auch mit der Geschichte konfrontiert werden, so gut wie überall (und nicht immer nett). Deutschsein ist leider auch von Leuten umgeben sein, die von dieser Geschichte nicht gelernt haben (was aber nicht nur ein Deutsches Phänomen ist). Deutschsein ist Erfindungsreichtum, Schrebergärten, schnelle Autos und Autobahnen, grantig sein und Gemütlichkeit. Vor allem ist Deutschsein für mich aber Freiheit, Freiheit zu sagen und zu tun was man will (solange das tun nicht gegen das Gesetz verstößt).

 

Es hat lange gedauert, bis ich endlich von mir aus gesagt habe ich bin Deutsch. Viele meiner Freunde sagen das schon lange. Trotzdem habe ich mich lange dagegen gesträubt meine brasilianischen Wurzeln aufzugeben. Erst nachdem ich, auch wegen des oben erwähnten Amerikaners, in die Vereinigten Staaten zog und schon ein paar Jahre dort lebte, fiel mir auf wie Deutsch ich wirklich bin. Deutschsein kann abfärben. Ich habe über die Jahre so einige dieser Eigenschaften übernommen und bin froh drum.

 

Eines ist jedoch sicher, ich hatte verdammtes Glück in dieses Land zu kommen und immer noch hier sein zu dürfen. Wäre ich in Brasilien geblieben oder hätte sich meine Tante für Brüssel oder London statt München entschieden, wäre ich ein anderer Mensch.

Text: Andréa Catel de Prates Soares