Meine Mutmaßungen:
Klar ist, ich bin Deutscher. Meine Familie war und ist deutsch. Damit trage ich all die »deutschen Prägungen« in mir. Natürlich verschlüsselt. Verwoben mit meinen persönlichen Prägungen. Aber dennoch da.
Natürlich möchte ich mit großen Teilen der deutschen Geschichte nichts zu tun haben. Aber als Deutscher trage ich Urheberschaft ebendieser Geschichte in mir. Sicher nicht direkt. Aber indirekt. Ich trage nicht schwer, aber ich trage. Meine Existenz heute fußt auf den Urhebern damals. Und Urheberschaft ist nicht übertragbar, auch nicht ablegbar. Das gilt für den malenden Künstler ebenso. Er kann sein Werk vernichten, verschenken, verkaufen. Urheber bleibt er aber trotzdem. Nur die Personen, die das Werk an die Wand hängen, ändern sich.
Deutschsein. Was über all die Generationen hindurchwirkt, vermag ich nicht zweifelsfrei zu benennen oder auseinanderzudividieren. Ich weiß nur eines: Wäre ich in Italien zur Welt gekommen, mit italienischen Eltern und italienischen Großeltern, in einer mediterranen Landschaft. Ich wäre heute jemand anderes. Was aber anders wäre, kann ich wiederum nicht mit Exaktheit benennen.
Halbleer anstelle halbvoll. Zwei Grundgefühle. Eines ist für mich deutsch und eines nichtdeutsch. Minderwertigkeit, fehlende Authentizität, Unreife schwingt mit. Gibt den Ausschlag. Wahrscheinlich auch bei mir. Ebenso in der Biografie eines Adolf Hitler. »Leer« beinhaltet ironischerweise Potenzial. Zum »mehr« werden, zum »besser« werden. Zur bedingungslosen Höchstleistung. Dennoch ist Halbleer vorweggenommene Niederlage.
Die Angst vor dem Untergang. Vor Verlust. Zwei Pole, die, wenn sie zueinander finden, frei jeglicher Moral Grenzziehungen niederreißen. Ich weiß heute: meine (deutsche) Erziehung war eine Erziehung immer hin zum Halbleer-Sein, niemals zum Halbvoll-Sein. So bin ich wohl auch in dieser Hinsicht Deutscher.
Uneindeutigkeit. Gegenteil von Stringenz. Ein klarer, übergeordneter Zielfokus fehlt auch mir. Auf dem Weg Irgendwohin gibt es immer Umwege. In Teilstrecken bin ich als Deutscher zu ungeheurer Systematik fähig. Als Deutscher trage ich beide Seelen in mir. Die Seele des Disziplinierten. Die Seele des Leistungswilligen. Das sind die Aspekte mit denen wir Deutschen assoziiert werden. Auf der anderen Seite steht die Seele desjenigen, der vergessen hat, wo er eigentlich hinwill, weil Vorbilder nie wirklich da waren. Das ist das, was die Deutschen auf meisterliche Weise zu verbergen gelernt haben.
Des kleinen Jungen, losgelassen in die Welt der Großen. Vielleicht, weil fehlende Vorbilder das Karma der deutschen Geschichte darstellen? Mein eigener Vater eignete sich nicht wirklich als Vorbild. Die Figuren des 3. Reiches dürfen keine Vorbildfunktion haben. Aus früher Geschichte hat sich keine schillernde Figur erhalten. Das ist für mich die wichtigste Mutmaßung in meinem Deutschsein.
Deutsche Reflexion. Ja, ich glaube Uneindeutigkeit und die deutsche Variante von Minderwertigkeit haben etwas hervorgebracht. Widersprüchlichkeiten zum Ausgleich bringen zu wollen. Durch Für und Wider. Durch Madigmachen. Durch Provozieren. Durch Gegenrede. Durch Illoyalität. Durch Verweigerung. Selbst durch das gelebte Empfinden der Nicht-Zugehörigkeit. Durch sich selbst Zerfleischen. Eine Bedrohung für alle Rechten und wie ich heute gelesen habe »Rechtsintellktuellen«. All das führt letztendlich zu einer dialektiktischen Betrachtungsweise – und, das ist mein fester Glaube: Zu einer lebenswerteren Gesellschaft, die nicht Widersprüche einebnet, sonder ausfechtet.
Und all das sind auch … deutsche Tugenden!
Text: Herr Graugans / Michael Helminger
Blog: Erkundungen in der Ungleichzeitigkeit