Archiv für den Tag: 27. Dezember 2018

24 T. + Nachspiel – Mutmaßungen über das Deutschsein, Gastbeitrag: #Andreas Glumm

Mutmaßungen übers Deutschsein

Wir waren per Autostopp in Frankreich unterwegs. Drei 16jährige Rabauken, drei Rucksäcke, der Staub der Straße. 1976. Es war der Sommer, in dem Schnaat uns mit Zigeunerjazz bekannt gemacht hatte, all die wunderbaren Sachen von Django Reinhardt. Wir hörten von einem Zigeunertreffen in Saintes Marie de la Mer, das jeden Sommer stattfand. Eine Wallfahrt. Auf dem Weg in die Camargue, wo es angeblich wilde Flamingos geben sollte, von denen wir aber nie einen zu Gesicht bekamen, pausierten wir in einer Tabac Bar. (Tatsächlich hatte uns ein Stück des Weges ein VW-Bus voller Zigeuner mitgenommen, und Schnaat prüfte immer wieder das Messer in seinen Stiefeln.) Wir nahmen drei Pastis mit Wasser, fühlten uns wunderbar Französisch in der Bar und taten so, als wären wir hochnäsige Engländer. Wie das so ist mit 16. Wie das so sein kann.
Noch drei Pastis, si vous plais!
Als ältere Einheimische am Nebentisch mitbekamen, dass wir lauthals Witze vom Stapel ließen, und zwar auf Deutsch, drehte sich der Wind binnen Augenblicken und man jagte uns aus dem Lokal. Erst wussten wir gar nicht, wie uns geschah, was los war, bis wir es aus dem Geschrei der Alten heraushörten: sie hatten uns als Boche identifiziert. Weil zu laut gelacht hatten – auf Deutsch. Und wir waren alle drei blond. Wir flohen regelrecht über die Felder und ließen die einheimischen Franzosen hinter uns, die sich am Eingang der Bar sammelten und uns zum Teufel wünschten.
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Einige Jahre zuvor, ich war noch ein Kind, reisten wir mit der Familie zum Campingurlaub nach Holland. Als wir einen Zwischenstopp einlegten und den Käsemarkt in Gouda besuchen wollten, parkte mein Vater den Wagen in einer Nebengasse, und wir wurden von Rockern angegriffen. Sie pöbelten uns als Nazis an, als „Moffen!“ und droschen mit Holzknüppeln auf den Wagen ein. Wäre nicht zufällig Polizei aufgetaucht, keine Ahnung, was passiert wäre.
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Boche und Moffen, Moffen und Boche. DEUTSCHER. Gebrandmarktes Vieh.
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Einmal waren wir auf einer Party. Auf dem Küchentisch lag ein Bildband aus, aufgeschlagen genau in der Mitte. (Künstlerszenen-Party.) Zu sehen war ein großes s/w-Foto aus dem Konzentrationslager, aufgenommen gleich nach der Befreiung durch alliierte Streitkräfte. Man sah Leichenberge, übereinander gestapelte tote Menschen, ermordete Menschen, von Boche und Moffen ermordete jüdische Menschen, hunderte von ausgemergelten hohlwangigen jüdischen Leibern, ineinander verknotet wie Schnürsenkel, ein Menetekel für das große böse Mordbrennen unserer arischen Seele. Möglicherweise waren nicht nur Juden, vielleicht waren auch Schwule, Kommunisten und Zigeuner unter den Leichen. Ich kam mehrfach an diesem Abend in die Küche und sah nach dem Bildband. Es lag jedes Mal da wie zuvor. Niemand blätterte die Seite um. Ein Leichenberg zwischen leeren Weinflaschen, Aschenbechern, Geschenkpapier.
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„Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“ war ein Stück von James Last, enthalten auf irgendeinem Sampler in der Plattensammlung meiner Eltern. Zu einer Zeit, als noch niemand von Easy Listening sprach, schuf James Last ein Stück Instrumental-Musik, perfekt für das Bild vom Deutschland der frühen Siebziger. Es war der Wunsch, sich der Welt heiter und freundlich zu präsentieren, getrieben von einer bösen Vorahnung, dass der Leichenberge-Spuk wieder von vorn beginnen wird, irgendwann in grauer Ferne, nur bitte nicht jetzt, nicht morgens um sieben.
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Sie nennt es den „Kosmischen Sprung“. Wenn die Chemie zwischen zwei Menschen plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät, einen Deut nur vielleicht, und niemand eine Erklärung dafür findet. Wenn sich eine unerklärliche Nervosität einschleicht, „dann hat der Himmel eingegriffen. Aus purer Lust am Eingriff.“
„So ein Himmel ist ja auch nur Chirurg“, stimme ich zu.
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Zwanzig Jahre lang hörte man in Deutschland nichts anderes als Krise, kranker Mann Europas, Arbeitsplätze, Milliarden Euro, man konnte es schon nicht mehr hören, dann kam der Aufschwung, und von nun an hörte man nichts anderes als Algorithmus, Arbeitsplätze, Best of Europe, Milliarden Euro, seit bestimmt zehn Jahren ist das so, man kann es schon nicht mehr hören.

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„Deutschland… das ist beim Küssen anschnallen“, lacht der Syrer, der einige Häuser weiter wohnt. Er kam nach Deutschland mit Frau und seinen beiden kleinen Jungs, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sind. „Wenn Polizei dich anhält und du küsst gerade deine Frau, musst du angeschnallt sein, sonst Strafe!“ Er macht diese arabische Ich-schlitze-dir-sonst-den-Hals-auf-Geste und lacht.
Wir unterhalten uns ab und zu. Er siezt mich, ich duze ihn. Obwohl ich ihm das Du schon ein halbes Dutzend Mal angeboten habe, bleibt er beim Sie. Ihm gefällt das deutsche Sie, sagt er. Der Respekt, den man seinem Gegenüber erweist. Wenn ich mich jetzt also nach ihm richte, müsste ich ihn siezen. Habe ich aber keine Lust zu. Ich duze ihn gnadenlos, er dagegen kann das verdammte Siezen nicht lassen.
Egal. Was ist ihm noch an Deutschland aufgefallen, frage ich ihn, außer der Anschnallpflicht beim Küssen. Er muss nicht lange überlegen. Es fiel ihm in den Moment auf, wo er samt Familie in unser Viertel zog, raus aus dem Wohnheim. Ihm fiel auf, dass in Deutschland sogar jeder Hund Steuermarke und Haftpflicht-Versicherung hat, während die Menschen in seiner Heimat nicht mal einen Ausweis kennen.
Er spricht schon ganz gut Deutsch. Ein weiteres neues Wort in seinem Sprachschatz: Kreuzbandriss. Es passierte beim Fußball. Jetzt muss er sechs Wochen zu Hause bleiben und die Knochen schonen.
„Kannst du das Du üben“, sag ich.
Er ist ein cleverer Bursche. Hat einen syrischen Schnellimbiss in der City eröffnet. Er fährt Motorroller und hat im nahen Kleingartenverein einen Schrebergarten gepachtet, wo er Gemüse zieht. Bis zu seinem Kreuzbandriss winkte ich ihm oft zu, wenn er mit seinem Roller an mir vorüberdonnerte und so wild hupte, als wäre er in Damaskus unterwegs zur nächsten Tattoo-Sitzung.
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Ich stand 1984 mittags in der Pommesbude am Schlagbaum und erinnerte Hitler daran, dass er mir beim letzten Mal schales Flaschenbier angedreht hatte.  Hitler, der Inhaber, ein alter Türke, den alle Hitler nannten wegen seines prominenten Oberlippenschnauzbarts, protestierte.
„Wieso Bier schal..? Bier nie schal, nie bei Hitler! Hier, Flasche gut zu! Flasche zu, Bier gut!“

„Ja klar ist die Flasche zu. Aber wenn die fünfzehn Jahre unten bei dir im Keller steht bevor du sie verkaufst, wird das Bier da drin trotzdem schal, irgendwann. Is doch klar.“
„Bier nie fünfzehn Jahre inne Kella bei Hitla! Bier frisch! Bier imma gut bei Hitla!!“
Ich winkte ab. Was sollte ich mich groß aufregen über eine verdorbene Kanne Kölsch. Ich ärgerte mich, es überhaupt erwähnt zu haben.
„Na gut. Tu mir ne Currywurst“, sagte ich, „mit Pommes..“
Hitler guckte reichlich grau.
„Wat drupp op de Pommes?“
„Mayo“, sagte ich.
Er schüttelte verstimmt den Kopf und zeigte in die Auslage, wo die frischen Sachen standen, Salate und so.
„Du immer nur Pommes, hömma…! Kein Wunder, du kotzen mein Bier. Hier, probier mal gefüllte Auberginen, ganze frisch..“
„Ach, Scheiße. Nee..! Hau ab!“
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“Im deutschen Beliebigkeitsbrei lässt sich nicht einmal mehr der Feind ausmachen. Früher wusste man genau, wer auf welcher Seite stand. Heute ist jeder sein eigener Feind, so beliebig sind wir alle geworden. Dabei bräuchte man nur ein paar aufrührerische Gedanken. Kosten nicht mal Geld. Hat aber niemand.“ (Gräfin)
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“Das liegt in der deutschen Natur: Wenn etwas schlimm ist, machen wir es noch schlimmer. Das haben wir quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Ein normaler Krieg reicht uns nicht, wir zetteln gleich zwei Weltkriege an. Wir können nur extrem. Extrem langweilig übrigens auch.“ (Gräfin)
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Wer jung ist, muss im Kontra sein. Doch wie soll die deutsche Jugend heutzutage im Kontra sein, wenn die Alten einfach nicht altern wollen und alles daransetzen, jung zu bleiben. Was bedeutet es für die Jugend, die im Kontra zum Zeitgeist stehen muss? Es bedeutet, dass sie mit dem Jungsein bricht. Dass sie vorschnell altert. Man hat gar keine andere Wahl, als junger Mensch in Deutschland.
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Es ist nicht das Mittelmaß, das in diesem Land den Ton angibt, es sind vielmehr diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen als dazugehören zu dürfen zum erklärten Mittelmaß.
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Was ich heut Morgen auch sage, sie versteht es falsch.
„Ich krieg meine Tage“, klagt sie. „Du musst Mädchendeutsch mit mir sprechen.“
Schön. Aber dazu muss man erst mal Mädchendeutsch denken. Das ist gar nicht mal so einfach für einen eingefleischten Buben.
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Zwei der dööfsten Volkslieder rücken die deutsche Oma in den Mittelpunkt: „Wir versaufen uns’rer Oma ihr klein Häuschen“ und „Unsere Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“. Auffällig auch, dass es in beiden Refrains um Behausung geht: das kl. Häuschen und der Hühnerstall. Und der Opa scheint in beiden Fällen ausserhäusig zu sein, ER bekommt nichts mit.
Was solls.
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Je älter ich werde, desto mehr arrangiere ich mich mit Deutschland, ja, desto mehr freunde ich mich an mit meiner Heimat. Mir gefällt dieses seltsam sterile ex-Filterkaffee-Land, auch wenn ich gar nicht so ganz genau weiß, warum. Aber das weiß ich nie, wenn mir etwas gefällt. Ist auch nicht so wichtig. Etwas mögen braucht kein Motiv.
Man mag.

Text: Andreas Glumm
Blog: Glumm