Archiv für den Tag: 8. Dezember 2015

T.8 der Mutmaßungen über Engel

Tanz der Engel

Cafe Weltenall … Ausgangspunkt für eine, die die alten Pfade kennt…

Wir sind Sterne, die singen können

Manchmal geht die Alte mit den sieben Schneenamen für ein paar Tage fort. Wohin das sagt sie nicht, es ist ihr Geheimnis. Dann hütet die kleine blaue Frau das Haus und das Feuer. Sie fragt nicht. Am Morgen hackt sie das Holz, schürt das Feuer, kocht den Tee und die Suppe. Am Abend deckt sie den Tisch für zwei. Ungewiss ist die Wiederkehr der Alten.

Schneestürme toben über das Land, Polarlichter kreisen. Die kleine blaue Frau sitzt in dem großen roten Sessel, schaut auf das Flackern des Feuers. Im Augenwinkel kann sie das Fenster sehen. Hoch und weiß türmt sich der Schnee davor. Sie beginnt zu singen. Sie singt und singt, bis sie selbst zum Gesang geworden ist. Er erfüllt die Räume der Hütte. Er kreist über Wände und Decke, verdichtet sich, nimmt sich Weg durch die Fensterritzen und den Kamin in die Welt. Ein feiner Glanz legt sich über die spärlichen Möbel der Hütte. Er legt sich über die Wände, den Boden und die Decke, umhüllt die kleine blaue Frau, als sie eine Bewegung in ihrem Augenwinkel wahrnimmt.

Sie wendet den Kopf, da sitzt der alte Graue im Schnee und lächelt ihr zu. Ihr Gesang ist jetzt Zärtlichkeit, ist gütige Liebe und Mitgefühl geworden. Als sie noch einmal in die Richtung des Alten schaut, die Hand zum Gruß erhoben, ist er nicht mehr da. Er ist, von ihr unbemerkt, weiter seinen Weg gegangen. Ihr Gesang verstummt. Nachdenklich steht sie auf, legt ein Holzscheit auf das Feuer und geht zurück zu dem großen roten Sessel. Sie beginnt zu verstehen. Der alte Graue ist der Engel ohne Flügel. Ungerufen ist er immer da, er begleitet und erinnert sie.

Schon einmal hat sie ihn getroffen. Er sagte:

„Sterben lernen, heisst leben lernen. Leben lernen, heisst sterben lernen. Es sind noch Schleier der Angst vor deinen Augen.“ Daran denkt sie jetzt, als sie auf die leeren Schneehügel vor dem Fenster schaut. Sie sieht die Schleier vor ihren Augen. Schicht für Schicht will sie diese von ihnen nehmen. Das kann dauern!

Die kleine blaue Frau zieht sich an und geht hinunter zum See. Sie hackt neue Löcher in das Eis, um auf den Grund zu sehen. Es schwimmen keine Fische vorbei, kein kleiner und kein großer. Jetzt ist es also bald Zeit weiterzuziehen. Als sie sich umdreht, sieht sie die Alte mit den sieben Schneenamen in die Hütte gehen.

Die Alte mit den sieben Schneenamen sagt nie ein Wort zu viel und nie eins zu wenig. Ruhig ist ihr Gang und Wirken. Sie sagt zur kleinen blauen Frau:

„Es gibt keinen Grund zur Euphorie und keinen für die Depression.“

Sie essen die Suppe, sie löschen die Kerzen, sie gehen zu Bett. Am nächsten Morgen begrüsst die Alte die kleine blaue Frau mit einem Lied:

„Wir sind Sterne, die singen können. Wir singen unser Licht. Wir sind Feuervögel. Wir fliegen durch den Himmel. Wir alle sind wie der Wind, eingehüllt in leuchtende Flügel. Unser Licht ist eine Stimme. Wir bauen eine Straße des Übergangs für die Seelen, die gegangen sind …“

(frei übersetzt nach dem Lied von Dead can dance: Song of the stars)

Ein Ausschnitt aus „Der kleinen blauen Frau“ © Ulli Gau