StadtLandFluß ( U,V,W,X,Y,Z )

 

Die Untersberger
Die Venediger
Die Walenbücher
Die Zaunreiterin

Die Reise durch das Alphabet in StadtLandFluß kommt langsam zum Spielende. Die letzten Buchstaben bewegen sich in den Reichen der unsichtbaren vergessenen Völker, von denen nicht viel mehr übriggeblieben ist als ein paar rätselhafte Sagen, die niemand mehr versteht und, die als Plüschzwerge mit roten Zipfelmützen reproduzierten Nissemen, zugewandert aus Skandinavien. Ich lebe in einer Gegend des Alpenvorlandes, wo es Ortschaften gibt, die noch so heißen, wie der örtliche Riese, Straßen mit dem Namen des Drachen, der dort hauste und wo es einen Berg gibt, der frei auf einer Ebene dazustehen scheint, ein massiver Gesteinsbrocken mit einer Scharte, in der die Sonne um Mittag hindurchleuchtet. Ein heiliger Berg, von dem der Dalai Lama einst behauptet hat, dieser Berg sei das Herzchakra der Erde. Zu Hunderttausenden pilgern die Menschen immer schon hinauf, suchen in seinen weiten Eishöhlen und in allen seinen Falten und Kammern nach verborgenen Geheimnissen, niemand hat bis jetzt gefunden, nach was er gesucht hat; ein paar wenige haben Erlebnisse, über die sie nicht sprechen, manche berichten wirres Zeug und hin und wieder im Lauf der Jahre verschwindet mal jemand auf Nimmerwiedersehen.
Es gibt die Geschichte vom Kaiser Karl und den Raben und es gibt die Geschichte vom  Gitschner Lazarus, der in den Berg hineingebeten wurde und Unglaubliches gesehen und erfahren hat. Er war bei den „Untersbergern“ gewesen, einem geheimnisvollen Volk im Inneren des Berges. Es scheinen dort sonderbare Leute in einer Art Paralleluniversum gelebt zu haben, irgendwer hat sie irgendwann verniedlichend Zwerglein genannt, sie werden in vielen regionalen Sagen erwähnt, aber der Glaube an diese Welt im Berg ging verloren, weil man mit den alten Kräften nichts mehr zu tun haben wollte.Man kann sie weder sehen noch hören und auf die Frage, ob diese alten Völker jemals existiert haben, gibt es keine Antwort. Obwohl – womöglich stehen die Antworten in den Sagen direkt vor unserer Nase, wir erkennen sie aber nur deshalb nicht, weil die Lösung der Rätsel zu einfach ist und zu direkt, um es zu erfassen. Die Wahrheiten schlagen uns förmlich ins Gesicht, aber wir müssten, um zu begreifen ein einsames Warten im Nichts aushalten, der dunkle Advent würde sich anbieten, die Membran ist dünner als sonst zu anderen Welten und Wesen, die dort leben. Durch alle Märchen und Sagen kommen die Aufforderungen, still zu sein, nicht zu sprechen, egal, was passiert, zu horchen und zu schauen, zu helfen in der Not und auf keinen Fall das große Geheimnis verraten. Das war schon unter Androhung der Todesstrafe in Eleusis so und ist im Berchtesgadener Land nicht anders.

Wer waren also die Untersberger? Warum gibt es in Kirchen hinter dem Altar lose Bodenplatten, unter denen Gänge zu geheimen Orten führten? Um Mitternacht kamen die Untersberger von unten herauf und hielten eine Messe, dann verschwanden sie wieder. „Schrazellöcher“ heißen diese unterirdischen Erdställe, niemand weiß etwas darüber.

Über die Sagenwelt zu sprechen ist eine Gratwanderung zwischen denen, die das Ganze für Blödsinn halten und den selbsternannten Schamanen, die sich als Entdecker von geheimen Spiegelwelten verkaufen.

Als ich in der blauen Stunde den Berg im Föhnlicht anschaue, kommt er mir vor wie ein riesiges Wesen, das ausgestreckt daliegt und seine tiefen Wunden leckt, die mit den Marmorbrüchen in seinen Leib geschlagen wurden. Wird er berührt von all den „Spirit“ Forschungen, Annahmen, Ritualen um seine angeblichen Geheimnisse die Spiegelweltesoterik und die gierige Ausbeutung der Gitschnergeschichte, dem Suchen nach dem Sinn unseres Lebens und nebenbei dem gewinnbringenden Verkauf neuentdeckter Kraftplätze und deren Tourismus … Wo sind sie geblieben, die Untersberger, die seine Adern bewacht haben. Plötzlich sehe ich diesen großen runden Stein, noch nie ist er mir aufgefallen … wie ein Wächter kommt er mir vor, die Heiligkeit beschützend. Und dann fällt mir diese geheime Schrift ein, die sich angeblich in silbernen Buchstaben dem Lazarus Gitschner bei den Untersbergern im Bergesinneren gezeigt hat:

„Surget satum“ … aufgehen wird, was gesäet.

Ich verhalte mich dem Ganzen gegenüber eher agnostisch, ich würde gerne an das kleine Volk glauben, an Moos- und Holzleute, die sich verwandeln konnten in Eulen, und daß beim Fällen eines Baumes sein Waldgeist auch stirbt, aber es fällt mir schwer, und doch halte ich alles für möglich. Und ich hatte ein paar persönliche Erlebnisse mit etwas, was ich vorsichtig „Anwesenheit“ nennen möchte, die mir sehr deutlich gezeigt  haben, daß es eben doch unglaublich viel gibt zwischen Himmel und Erde … darunter ist auch diese Geschichte, die mir vor sehr langer Zeit der Vater meiner Schulfreundin, ein ansonsten wortkarger, gottesfürchtiger  Bauer, der niemals gelogen hätte, erzählt hat. Ein kleiner Mann sei neben ihm hergegangen am Weg von der Kirche nachhause. Am Waldrand, ich kenne den Weg. Das Männlein war sehr klein und trug einen großen Hut. Gesprochen haben sie nichts, dann ist es so plötzlich wie es gekommen war, wieder verschwunden.

Wer die sagenhaften „Venediger“ waren, das weiß niemand. Es scheint Menschen gegeben zu haben, die Erze erspüren konnten, „fühlig“ waren. Manches spricht dafür, daß sie aus der Gegend von Venedig kamen und auf der Suche nach Mineralien waren für die Herstellung von kobaltblauem Glas. Es waren „Welsche“, fremd, südländisch, eher klein von Gestalt. Man erfuhr nichts von ihnen, wahrscheinlich wurden ihnen die Zauberkräfte nur angedichtet und vor allem, da sie in Bücher schrieben, wurde ihnen das Wissen um große Schätze unterstellt. Die genaueren Schatzkarten sollen sie angeblich in den „Walenbüchern“ verzeichnet haben. Ihre Existenz verschwimmt in den Nebeln von Märchen und Sagen. Ihre größte Kunst scheint das plötzliche Auftauchen und wieder Verschwinden gewesen zu sein.

Auf meinem Weg durch das Alphabet bin ich beim X angelangt und finde das Christogramm der Buchstaben Chi und Rho und irgendwo steht geschrieben, daß dieses P, an dessen Längsstrich sich ein X kreuzt nicht nur das Erkennungszeichen der ersten Christen bedeutet,  sondern auch das Zeichen ist, das den Tod besiegt.

Dann kommt das Y, ein Buchstabe, zu dem mir nur die Weltenesche Yggdrasil einfällt, an deren Wurzeln die Nornen ddas Menschengeschick spinnen und weben. Das gehört zur nordischen Mythologie, hier im Süden haben wir die drei heiligen Fräulein, die wohnen in Höhlen und hängen die Wäsche zwischen zwei Berggipfeln auf, sie singen und lachen laut, die mittlere ist die Margarete und die tanzt mit dem Drachen.
Frau Percht, die uralte Tod und Lebenzuteilerin fliegt mit ihrem Gefolge der wilden Jagd über das Land, sammelt Seelen ein und teilt aus. Zur Zeit liegt sie wahrscheinlich auf diesen warmen Föhnwinden und läßt sich schaukelnd von ihnen tragen…

Die Zaunreiterin bildet das Ende des Buchstabenreigens, obwohl sie weder Anfang noch Ende bedeutet, sie wandelt auf dem Zaun als Grenzgängerin zwischen den Welten, zwischen Wildnis und Zivilisation, Bekanntem und Unbekanntem, Drinnen und Draußen, Diesseits und Anderswelt. Eigentlich aber steht sie in beiden Welten gleichzeitig, mit dem einen Bein auf der einen und mit dem anderen Bein auf der anderen Seite vom Zaun.
Sie kann das Gras wachsen sehen und hört den Gesang der Sterne, sie versteht die Sprache der Tiere und kann Wunden heilen. Sie ist überall und gehört nirgendwo dazu, manchmal sitzt sie auf dem Zaun über dem Abgrund, läßt die Beine baumeln und singt das alte Mondlied.

Ich werde mich in eine Eule verwandeln und ihr Gesellschaft leisten heute Nacht …

 

 

 

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