Seit Wochen treibt der Föhn, dieser liederliche Halunke, sein Spiel in der Troposphäre, tanzt über das Alpenvorland, schiebt die riesigen dunkelblauen Steinbrocken des Gebirges vom Horizont weg so weit ins Landesinnere, daß man ihnen auf der Straße bald nicht mehr ausweichen kann. Am Himmel dahinter lodern rote Flammen. Auch in der Nacht der toten zum 1. November hin schleicht er verlogen warm über den Gottesacker und streicht mit zarter Sommernachtshand über Nacken und Gesicht und er findet immer die Lücke, und sei sie noch so klein, da, wo die Tür zur Seele nicht fest verschlossen ist … da weht er hinein und da spürt man dann die alten Wunden und die Sehnsucht, von der man gemeint hat, daß sie endlich verschwunden wäre, weil man eh nie wusste, woher sie denn gekommen ist und warum und wo man mit ihr hin soll. Und dann zieht er weiter, schlängelt sich um die Gräberund läßt mich mit „Ma solitude“ zurück.
Ich bin ganz alleine am Gottesacker, der Mond spiegelt seine Sichel in den blankgeputzten Grabsteinen, im unruhigen Flackern der vielen echten und falschen Kerzen wehen von den Blumen dunkle Schlieren über die Gräber. Die unscharfen Gestalten, die gelangweilt an den Grabsteinen lehnen, werfen schon lange keine Schatten mehr, sie sind selber welche. Einige von ihnen kannte ich, als ihre Herzen noch schlugen, hier an diesem Ort ist das jetzt alles egal und wir sind an Kontakt noch viel weniger interessiert als wir es früher waren. In Mexiko tanzen sie jetzt auf den Friedhöfen, sind fröhlich und berauscht, singen und lachen und tun so, als würde La Muerte selbstverständlich mittanzen wollen, weil es doch im Grunde keinen Unterschied gibt zwischen Geburt und Tod, Leben und Sterben … ausgedacht von einer humorvollen Gottheit, die sich einen Jux machen wollte … wozu also weinen und klagen, besser ists allemal, den Reigen zu tanzen, an einer Hand die graue Dame, an der anderen ein Kind … Musikanten spielt auf, laßt uns fröhlich sein und den Herrgott einen guten Mann!
Hierzulande wird aber nicht getanzt mit den Toten. Hier stehen wir am Friedhof, sind froh, daß wir noch nicht dort unten liegen und der Pfarrer segnet mit vielen Litern Weihwasser die Gräber, warum ausgerechnet die einen Segen brauchen ist nicht restlos geklärt, ich vermute darin eine uralte magische Handlung zum Bannen der Toten, damit sie nicht heraufkommen und sich die Lebenden holen. Von der nächsten warmen Bö lasse ich mich fangen und wir tanzen durch das Friedhofstor hinaus in die Nacht, der Wind singt mit mir leise das Lied, das wir alten Kinder gesungen haben:
„Sur le pont d’Avignon l’on y danse, l’on y danse,
sur le pont d’Avignon l’on y danse tout en rond.“

Der Föhn ist davon geschwebt und jetzt hat es geschneit. Noch bevor der Schnee kam, waren sie schon komplett verschwunden, die Tintlinge – (Coprinus sensu lato) – hinter dem alten Haus mit ihren Familien. Alles begann mit einem wunderschönen Wesen, das plötzlich über Nacht seinen Kopf mit weißem, walzenförmigen Schuppenhut auf sehr schlankem Hals aus der Erde schob. Weitere folgten und bildeten Familiengruppen. Im Laufe der Zeit veränderten sie drastisch ihre Gestalt, die Kappen wurden breit und ausgefranst und dunkelblau, fast schwarz. Diese Farbe, die man früher als Tinte benutzt hat, sorgt dafür, daß sie sich selbst auflösen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Plötzlich sind sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Sie sind einfach weg ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
Von Geheimnissen sind wir umgeben, um ihnen zu begegnen braucht man keine weiten Reisen, oft genügt es, einfach nur hinters Haus zu gehen und sich umzuschauen.
Wenn ich zum Nußbaum gehe, an dessen Ast die eiserne Pfanne hängt, aus der mein Vater einen katzensicheren Vogelfutterplatz mit Dach machte, streift mich immer ein Zweig am Arm, wie zur Begrüßung. Und wenn ich die Sonnenblumenkerne auffülle, pfeife ich immer die gleiche kleine Melodie und dann höre ich schon währenddessen leises Flattern und Gezwitscher und kaum bin ich ein paar Meter weg, kommen schon die ersten zum Fressen. Allen voran der Specht, wie immer elegant gekleidet mit leuchtend rotem Wams und schwarzweiß gepunktetem Hemd unter dem Schwarzen Frack, kommt gerne kopfüber am Stamm herunter, wenn er gerade in der Gegend zu tun hat.
Das alte Haus ist in nervöser Aufruhr, wir haben schwere Bauernkästen und Truhen an andere Plätze geschleppt und geschoben, herum- und aufgeräumt, solche Veränderungen mag das Haus nicht, es ist gewöhnt an die alten Ordnungen und reagiert mit verirrten Energieströmen, die wie abgerissene Elektrokabel lose herumkriechen. Auch ein Haus braucht Zeit, sich in veränderten Gegebenheiten zurechtzufinden.
Der eingewinterte Kaktus hat eine Knospe geboren.
„Von Geheimnissen sind wir umgeben, um ihnen zu begegnen braucht man keine weiten Reisen, oft genügt es, einfach nur hinters Haus zu gehen und sich umzuschauen.“
Sofortiges Einverständnis…