Damals

Es war Schnee gefallen in der großen Stadt. Ich war Mitte Zwanzig und melancholisch am Leben entlangfröstelnd lief ich durch die Straßen um meine Wohnung herum, die keine Heimat wurde. Alles war anders  als erwartet, die Stadt  war mir nicht entgegengekommen, ich fühlte mich fremd und einsam.

Im Schaufenster einer heruntergekommenen Buchhandlung lagen stapelweise verstaubte Bücher, beim Eintreten bimmelte eine kleine Glocke. Ein wenig verloren stand ich da, es roch nach Mottenkugeln und Kohlefeuer, überall Bücherstapel bis zur Decke und an den Regalen lehnten düstere Ölgemälde.

Aus dem Dunkel hinter einem schweren Vorhang kam ein Mann, er trug ein verschlissenes Jackett, eine Art Baskenmütze auf weißen Haaren, zerlatschte Hausschuhe und er hatte leidenschaftliche und wilde Augen.

Er ließ mich in einem staubigen Fauteuil Platz nehmen, verschwand, brachte große Gläser mit zuckersüssem, angewärmten Rotwein, stellte ein paar Kekse hin, dann legte er mir einen Wollschal um die Schultern und rezitierte mit leiser Stimme ein Gedicht.

Wie eine Königin fühlte ich mich in einem Reich hinter der Welt, und als er das zweite Glas Rotwein brachte, ertönte ein Gesang, der schönste, den ich bis dahin gehört hatte und wir saßen da und lauschten.

Nie werde ich diese wilden, brennenden Augen vergessen und den festen warmen Händedruck. Und die Gedichte von Schiller, die er mir zum Abschied schenkte, stehen immer noch im Regal.

 

Dank an Ludwig Zeidler und an sein Schreibprojekt:

„abc etüden, kürzestgeschichten in 10 sätzen“

24 Gedanken zu „Damals

    1. Das freut mich, Ludwig, dankeschön! Ach ja, die Callas, die bringt mich immer noch zum Heulen!
      Gruß von Schnupfennase zu Schnupfennase!

    1. Ach, liebste Madame, für solche Worte machen wir doch immer weiter, nicht wahr, und die Feststellung, die andere würde was schreiben, was man selber erlebt hat, das ist großes Glück!
      Ich dank Dir sehr für Deine Worte! Liebe Grüße

  1. Deine Geschichte entfaltet sich in meinem Herz und schlägt Wellen … Kaum zu glauben, dass das nur 10 Sätze sein sollen, sie ist so groß und trägt so weit …
    Liebe Grüße
    Christiane

    1. Meine Güte, liebe Christiane, Du triffst mich mitten ins Herz mit Deinen Worten und gleich schwemmt es mir alle Grippeviren aus den Augen heraus…
      Das ist ein großes Glück, jemanden zu erreichen und Wellen zu schlagen im Herz…schöner gehts nicht mehr, vielen, vielen Dank!

  2. Solang auch wir leidenschaftlich wilde Augen haben, interessiert doch die Anzahl unserer Jahre nicht! Ich wünsche dir interessante Lektüre in der warmen Stube für frostige Abende

  3. Toll….holt gerade Erinnerungen hoch. Die Buchhandlung könnte anno 1985 sowohl in N. als auch in L. im Osten gestanden haben: Buchhändler in Hausschuhen , weißhaarig und Baskenmütze und – komplett durchgeistigt: Wehe du fragst nach Autoren, die ihm zu profan sind! „Hach, dass die jungen Leute immer nach diesem Hesse fragen müssen! Der hilft doch nun bei überhaupt nichts weiter!“ Missbilligender Blick und Hinweis auf gehaltvollere Literatur: „In diesen Zeiten solltense Ehrenburg lesen oder Tendrjakow.“

    1. Ja, das könnt alles passen, was Du da sagst…aber hier liegt der Zauber und das Unvergeßliche in diesen absolut wilden und brennenden Augen…
      Gruß

  4. Ich erlebe gerade ein Déjà-vu! Kürzlich ist hier ein älterer Herr verstorben, der ein Antiquariat beseelte und auf den deine Beschreibung gepasst hätte. Es kommt mir vor, wie ein Gruß aus einer anderen Welt. 🙂
    Herzliche, reale Genesungswünsche und – grüsse! Uta

    1. Ich danke dir sehr, lieber Gerhard, daß Du Poesie in meinem kleinen bescheidenen Text vermutest, das ist wirklich eine Freude!
      Danke dir!

  5. Mir gefällt Ihre Skizze sehr gut. Vielen Dank dafür, liebe Frau Graugans.
    Was haben wir für ein Glück gehabt in unserem Leben, so viel noch zu sehen und erleben zu dürfen, was nun nicht mehr ist.
    Vielleicht ist das sogar positiv zu sehen. Wen interessiert in diesem digitalen Zeitalter noch ein unordentlich unübersichtliches Angebot in einem Antiquariat? Auch wir werden vergehen und it uns unsere Ansichten und Meinungen.
    Klingender Abendgruss aus dem jungen Bembelland,
    Herr Ärmel

    1. Also, lieber Herr Ärmel, mich interessiert so ein unübersichtlich unordentliches Angebot in einem Antiquariat außerordentlich…fürchtete, es gäbe keine mehr…aber unser geschätzter Herr Riffmaster sprach davon, daß in der Landeshauptstadt tatsächlich noch welche existieren…ich hoffe sehr, daß er mich mal hinführt…sollten ihm seine Geschäfte dazu Zeit lassen…!
      Ach ja, Herr Ärmel, freilich vergehen wir mal, aber noch sind wir da!!!!
      Viele liebe, vom Schnee befreite Grüße…und…
      lassen Sie sich´s gutgehen!

  6. Mein Gott, kannst Du aber schöne Geschichten erzählen … da wird man geradezu auf magische Weise mit hineingezogen … vielen Dank !

    Und da fällt mir natürlich auf der Stelle, der Bastian ein, dessen Geschichte in dem Antiquariat des Buchhändlers Karl Konrad Koreander beginnt … und daraus wurde dann eine unendliche Geschichte …

    1. Ist das schön, lieber Meister, daß Du den Karl Konrad Koreander noch kennst…und am meisten freut mich, daß Du mir Magie unterstellst…kicher…könnt schon sein, daß da sowas mit im Spiel ist…

      Ganz liebe Grüße
      treibe mich eh fast mehr in Deinem Zauberladen herum als hier zwischen Himmel und Erde…

  7. ich bin hierher geraten auf der Suche nach den ersten Mitmachern bei den abc-etüden. Christiane sucht ja nach den ersten Illustrationen. Und ziehe beglückt wieder vondannen, von den wilden brennenden Augen und der göttlichen Maria Callas herzenserwärmt.

    1. Das ist ja wunderbar, liebe Gerda, daß Du hier gelandet bist und daß Dir auch noch das Herz erwärmt wurde, schöner gehts ja kaum! Danke für Deinen liebenswürdigen Besuch, viele Grüße!

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