24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 14 #Bludgeon

Welcome to my nightmare

„Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga, dass schon damals meine Mutter sang“. Alexandra. Hit in Deutschland(West) in den 60ern. Erfolgreich re-recorded und zu Fernseh-Show-Ehren gebracht von Iwan Rebroff in den 70ern. Der war nicht mal Russe!
Wieso wird sowas Hit? In einem Land, das ansonsten das Russenfeindbild faktenunabhängig pflegt, wie nur was!
Die Zielgruppe des Schlagers war die „Generation Großdeutschland“. Musikalische Traumabewältigung. Heimgekehrt aus jenen Gegenden mehr oder weniger weit hinter dem Ural, zum Schweigen verdonnert, weil es eh keiner hören wollte, oder keiner mehr hören konnte. Weil man sich hätte klein machen müssen, wenn man wahrheitsgemäß erzählt hätte – und weil es ein großer bitterer Happen Biografie war, der da in einem nagt. Wenn Alexandra singt, siehst du dich wieder am Stacheldraht stehen, mit dieser Sehnsucht im Herzen, die man Heimweh nennt…
Und dann kamst du heim, aber so anders. „Du hast geschrien im Schlaf. In der Nacht bin ich aufgewacht, warum hast du geschrien?“ Den Kindern bist du ein Rätsel.
Den Eigenen, denen jegliche Erfahrung im Umgang mit diktatorischen Verhältnissen abgeht. Die via Auschwitzprozessen unvorbereitet auf die Schreckenskapitel jener Gröfaz-Zeiten stießen und nun naseweis, rechthaberisch den Familienfrieden kaputtdozierten, sich in eine Art neues Geißlertum hineinsteigerten, Buße einforderten und selber büßen wollten, ohne zu verzichten; mit ihrer Rechtschaffenheit hausierten; ihre frische Anfangserkenntnis ausbauten, bis sie in absoluter Selbstgerechtigkeit gerann.
Auch in Deutschland(Ost) war das Lied von der Taiga ein Hit und Alexandra ein Star, ganz ohne Airplay in DDRischen Medien. Hier, wo man Zugang zum Alexandrow-Ensemble hatte, wo jeder Pionier-Chor Russenlieder schmetterte, wo keine Fernseh-Show ohne „Kalinka“ denkbar war, fehlte die musikalische Variante des melancholischen Heimkehrersounds offiziell völlig.
Zunächst half der Klassenfeind im Äther: „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor“ schallte aus dem Westen herüber; Heidi Brühls „100 Mann und ein Befehl…“, Kuhlenkampfs zynische Anspielungen auf seinen „Freundschaftsbesuch in der Sowjetunion 1943“ und auf dämlichen Kadavergehorsam vor Ex-Generälen in „Einer wird gewinnen“ waren die Schenkelklopfer-Trostpflästerchen für die Davongekommenen (Ost), deren Erinnerungen auch hier nicht zum offiziell-gewollten Ton passten.
„Die Abenteuer des Werner Holt“ wurden 1960 zum Sensationsbuch, zur ostdeutschen „Blechtrommel“. Die Hitlerjungen von einst hatten nun eine Bibel. Sie wurde zur Pflichtliteratur und trotzdem gern gelesen bzw. als Film rezipiert, weil er sich angenehm abhob, von den MosFilm- und LenFilm-Produktionen der „Freunde“, die eher für das dortige Klientel bestimmt waren und den (verständlichen) Siegestaumel auskosteten. Der „Holt“ war ein äußerst glaubwürdiger Entwicklungsroman aus deutscher Mitläufersicht; also massenkompatibel. Pflichtfilm 10. Klasse.
Er stand mir also noch bevor, als ich anfang der 70er wiedermal mit auf Praxis in die Dörfer fuhr. Wir fuhren ins Wethautal hinunter und an der Kirche hatte irgendwer die Hecke drastisch gekürzt. Im Vorbeifahren kam ein Kriegerdenkmalkapitel zum Vorschein.
„Or, guckemal ein Nazi-Stahlhelm! Bei uns?!“, krähte ich, ca. 11jährig, Blitzerkenntnis bewegt los.
„Quatsch. Issn Denkmal fürn Erschdn Weltkrieg. Unse hatten die Helmform schon im erschdn Kriege. Außerdem war nicht jeder Nazi, der den im Zweeten offsetzen musste. Oder is dein Onkel Toni etwa’n Nazi?“
„Nee.“ murmelte ich kleinlaut, prompt die Silhouette des hutzlig kleinen Kettenrauchers vor Augen.
„Was hätter solln machen, wenner geholt wird zur Musterung? Wenn du 18 wirschd sein, holnse dich och zum Barras. Und dann? Marschierste mit. Oder willste über die Mauer klettern?“
Ich schwieg. Das Thema arbeitete weiter im Kopf. Ein 68er wurde nicht aus mir.

 

Text: Bludgeon
Blog: Toka-Ihto-Tales

6 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 14 #Bludgeon

  1. An den Alexandra-Hit kann ich mich auch noch gut erinnern, wie überhaupt an so einiges was du hier beschreibst, nur eben nicht wie es im Osten gewesen ist, da lebte ich ja nun einmal nicht. Mir versuchte man Angst vor den Russen zu machen, seltsam, hatte ich aber nicht, ich träumte davon mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren, ja, durch die Taiga – als ganz junges Ding las ich mit Begeisterung Gorki, Dostojewski und viele andere kamen erst später und auch wenn ich dann in den 1970er Jahren das erste Mal in Ostberlin gewesen bin und so einiges sah was mir missfiel, so spürte ich aber keine Angst.
    War eben nicht jeder Deutsche ein Nazi und auch nicht jeder Russe gewalttätig –
    danke für deinen Text,
    herzliche Grüße
    Ulli

      1. Da stimme ich dir zu, liebe Gerda, vielleicht kam der Satz ja falsch rüber, er war so gemeint, dass eben nicht jeder Russe gewalttätig gewesen ist, so, wie man es mir versuchte beizubringen, aber es war eben auch nicht jeder deutsche Soldat ein Nazi.

        1. der Zusatz ist wichtig: „wie man es mir versuchte beizubringen“, Trotzdem gefällt mir der Satz nicht. ich verstehe zwar deinen Gedanken, aber es widerstrebt mir, „Nazi sein“ und „gewalttätig sein“ auf derselben Ebene anzusiedeln. „Nazi“ ist keine Charaktereigenschaft, sondern war eine Parteizugehörigkeit, manchmal fanatisch, oft überzeugt, nicht wenige auch aus Opportunismus oder aus Feigheit oder weil es „alle“ waren. Die Mehrheit der Deutschen bekannte sich zu dieser Partei. Gewalttätig ist eine Charaktereigenschaft, eine Handlungsweise, gelegentlich auch das Kennzeichen eines politischen Regimes, niemals aber eines Volkes.

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