Flieder
Früher war neben dem Flieder eine Schneeballstaude. Sie haben zusammengehört und ziemlich gleichzeitig geblüht, der weiße Schneeball und der Flieder mit seinen blaßlila Blüten, die ausschauen, als hätte der letzte Regen die Farbe etwas herausgewaschen. Den Schneeball hat der Vater schon vor vielen Jahren ausgerissen, weil er während seiner kurzen Blühzeit schwarz wurde vor lauter Läusen. Der Flieder hat bis heute überlebt, geduldet an der Außenseite des Gartens. Er wird schon an die 50 Jahre alt sein. Man sieht ihn kaum noch, er verschwindet hinter wild wuchernden Kornelkirschen und diversen anderen Gehölzen. In den letzten Wochen war es kalt und nass. Trotzdem ist dieser feine, süße Geruch durch den Regen geschwebt, kaum wahrnehmbar und doch vorhanden und erfreuend.
Wie immer, wenn ich etwas abschneide, das draußen blüht und duftet, bereue ich es, sobald die Vase auf dem Stubentisch steht. Auch beim Flieder war es ein Fehler, er hat sofort Blüten verloren und sein feiner Geruch wurde zum süßlichen Verwesungsgeruch, wie bei allen Pflanzen, die man abschneidet und sie dann tot in Vasen stellt. Ich mag sie viel lieber draußen anschauen und riechen in ihrem Werden und Vergehen und wieder Werden, das sie ihrer Natur gemäß selber bestimmen und nicht zur Unzeit verwelken müssen, weil sie die Schere abschneidet von ihren Wurzeln und vom Leben.
Gestern war Muttertag, auf den Straßen wurden die Mütter herumgefahren zu den diversen Berggasthöfen mit viel Torten und Kaffee und schöner Aussicht ins Gebirge. Die ansonsten halbleeren Parkplätze vor den Altenheimen waren belegt bis in den hintersten Winkel, auch da wurde Müttern mit Pralinenschachteln und riesigen Schnittblumensträußen, mit herzförmigen Torten und Kaffee und Glückwünschen Kinder- und Enkelliebe überbracht, hinein in die trostlosen Aufbewahrungsstätten. Manche Mütter haben umsonst gewartet, sie bekamen auch am Muttertag keinen Besuch und wo ist denn die Liebe geblieben … ach die Liebe, manchmal weht sie heran, wie der zarte Duft des Flieders durch den Regen … aber jetzt ist er verblüht und der Duft verflogen, aber die Sonne scheint und bald werden die Akeleien blühen.
Ich stehe am Abend am Grab, über mir der volle Mond, ich gieße die Hornveilchen und hole den kleinen Engel unter dem wuchernden Cottoneaster hervor, damit er in die Nacht hinausschauen kann und sich am Mond erfreut. Ach Mama, so lang bist Du schon tot, 57 Jahre lang. Ich kann mich kaum mehr an Dich erinnern, aber die Andeutung eines, Deines Geruchs habe ich mir bewahrt, wie den Duft des Flieders, der längst verflogen, doch noch in mir gespeichert ist. Und Dein Lachen, Mama, das hast Du mir da gelassen, dieses hellklingende Lachen, wie Perlen, die auf die Tischplatte kullern, wenn die Schnur reißt. Ein Lachen, so lebensfroh und glücklich, dieses Trotzalledemlachen, und ich sehe Dich irgendwo auf der Wiese, die Arme übervoll mit Blumen und Gesträuch. Du warst ein mutterloses Kind, heimatlos bist Du durch die Welt getrieben worden und auch ich bin ohne Mutter zurückgeblieben und erst jetzt, da ich alt bin, weiß ich, was das bedeutet.
Weißt Du, Mama, der Flieder schaut aus wie Deine Kittelschürze, da war auch die Farbe so herausgewaschen. Ich lege Dir nichts aufs Grab, denn ich trag Dich ja eh in mir, tief drin in meinem Herzen und manchmal, wenn ich lache, dann ist mir, als würdest Du aus mir lachen, Du weißt, was ich meine, nicht wahr, Mama.