4. Brief an die Frauen

Liebe Maria, Mutter des Jakobus,

eine Nachricht habe ich erhalten: Erinnere Dich!, stand darin; und: dass die Vergangenheit womöglich gar nicht hinter uns liegt und die Zukunft vor uns, sondern alles gleichzeitig existiert. Vielleicht ist das so, ich stelle es mir jedenfalls manchmal so vor. Also nehme ich den Ruf aus dieser Nachricht an, also versuche ich, Euch durch die jahrhunderteweite Geschichte nahezukommen, Euren Erfahrungen nachzuspüren, Euch in dieser Osternacht, an diesem Ostermorgen zu begleiten.

Ich stelle mir vor, dass es früher Morgen ist, Tagesanbruch; Ihr wollt zum Grab Jesu gehen und ihn salben – so ist der Brauch – sobald der Sabbat vorbei ist, an dem das vermutlich verboten war; und sobald es wieder hell genug ist, um den Garten mit dem Grab aufzusuchen. Ihr fröstelt in der Morgenkühle, zieht warme Tücher um Euch; Ihr habt Gefäße mit Salbölen bei Euch, alles, was Ihr benötigen werdet.

Ihr wart wichtig für diesen Jesus, wichtig in seiner Gefolgschaft – so wichtig, dass sie Euch erwähnen mussten, die Männer, die seine Geschichte aufgeschrieben haben, obwohl sie doch die Frauen gerne weggelassen, gerne unwichtig gemacht und verschwiegen haben. Besonders Dich, Maria Magdalena, haben sie hier und da genannt, Du also musst besonders wichtig gewesen sein – ihre Auslassungen wurden später gefüllt, mit Heiligenlegenden, mit Bildern – die Heilige mit dem Salbgefäß, die halbnackte Büßerin, von Männern fantasiert, von Männern gemalt.

Aber davon wisst Ihr nichts an diesem Morgen. Nichts davon, dass Jesus nicht als Aufrührer in einem Nebensatz der römischen Geschichtsschreibung enden, sondern als Gott einer großen Weltreligion verehrt werden wird; seine Botschaft aufgeschrieben und weitergegeben und übersetzt und gelebt und interpretiert und entstellt, so dass Licht und Schatten sich unentwirrbar vermischen: Christliche Nächstenliebe und Kreuzzüge, großartige Kirchen und Klöster, kunstvoll ausgemalte Eingangsbuchstaben in heiligen Schriften, philosophische Denkgebäude, politische Machtkämpfe, Kirchenspaltungen, Hexenverbrennungen, Missionseifer, theologische Haarspalterei, Dogmen, Prunk und Pomp, sexueller Missbrauch, verbindende Gemeinschaft in Gottesdienst und Kirchenchor; überhaupt: herzzerreißend schöne Musik und großartige Kunstwerke, Märtyrer und Päpste und einfache Menschen voller Gottvertrauen, ach, das alles. Und es nimmt seinen Anfang hier, bei Euch, an diesem zarten Morgen.

Ihr seid unterwegs, Eure Schritte schwer von Trauer, Eure Gesichter gezeichnet von zwei durchweinten Nächten. Das Salböl in Euren Gefäßen ist kostbar. Ihr seid wohlhabende Frauen, ihr gehörtet zu denen, die Jesus und seinem Gefolge Unterkunft und Bewirtung anbieten konnten, habt sein Dasein als Wanderprediger unterstützt – und mitermöglicht. Anders hat er von Gott geredet als die Pharisäer und Gelehrten. War es seine Botschaft, die Euch begeistert hat, oder war es, dass er Euch Frauen wahrgenommen, ernstgenommen, gesehen und wertgeschätzt hat, als ganze Menschen? Habt Ihr bei ihm ein Gegenüber gefunden, wie ihr es gesucht und unter den Männern sonst nicht gefunden habt?

Ihr habt ihn verehrt und – mindestens Du, Maria Magdalena – auch geliebt. In Deinem Leid sehe ich das Leid aller Frauen, die erleben müssen, dass einem geliebten Mann Schmerz zugefügt, ein geliebter Leib verletzt, gequält, erschossen, von Granatsplittern zerrissen, vergiftet, in einem Straflager ausgehungert, gefoltert, an ein Kreuz geschlagen wird, sinnlose und grausame, widernatürliche Gewalt gegen Körper, die für den Austausch und das Lachen, für das Leben und die Zärtlichkeit geschaffen sind.
Jesu Leichnam jetzt zu salben bedeutet auch, dass Ihr ihn noch einmal berühren, von ihm Abschied nehmen, seinen Tod begreifen könnt, mit Euren Händen.

Ihr geht durch den hellen Morgen, da ist schon der Garten, da drüben das Grab. Beim Näherkommen seht Ihr, dass Eure Sorge um den schweren Stein, der mit dem es verschlossen war, ganz unbegründet war, er ist schon fortgerollt. Das Grab ist geöffnet, doch warum?

Zögernd tretet ihr ein, aber Jesus ist da nicht, dort, wo ihr ihn selber gesehen habt, an diesem grausamen Freitag, liegt niemand mehr. Stattdessen einer im weiß leuchtenden Gewand, der von Auferstehung spricht. Was geht in Euch vor?
Ich stelle mir vor, dass Ihr noch ganz am Anfang Eurer Trauer steht, an dem es noch nicht zu begreifen ist, dass ein Mensch wirklich tot ist. Könnt Ihr das Reden von der Auferstehung deswegen glauben? Habt Ihr es erhofft? Hat Jesus selber davon geredet, und es erschien ganz unvorstellbar? Oder vergrößert das Reden des Weißgewandeten Euren Schmerz, weil Ihr doch Abschied nehmen wolltet, Jesus noch einmal sehen und berühren?

Ich habe Bilder betrachtet, Ihr drei Frauen am Grab seid ein beliebtes Motiv durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Man hat großes Erschrecken in Eure Gesichter gemalt, ungetrübte Freude, ikonenhafte Gefasstheit – die mir am besten gefällt, weil sie der gefühlten Starre nach dem Tod eines Menschen ähnelt, und weil die Ikonengesichter immer wieder betrachtet werden können, ohne jemals ihr Geheimnis ganz preiszugeben.
Dennoch: Erschreckt Ihr? Flüchtet Ihr? Werdet Ihr es wagen, den Jüngern und den anderen Jüngerinnen von diesem Erlebnis zu erzählen, werden sie Euch überhaupt glauben, braucht Ihr selbst erstmal Zeit, zu verarbeiten, was Ihr da gehört habt?

Du jedenfalls – Maria Magdalena – gibst erst einmal nicht auf, den Leichnam zu finden. Den Gärtner, der ganz in der Nähe auf einmal zu sehen ist, fragst Du: Wo habt ihr ihn hingebracht – und als er Dich ansieht, erkennst Du, dass Du ihn selbst vor Dir hast, Jesus. Ich glaube, dass Du aufspringst und ihn umarmst, und ich glaube, dass er Deine Umarmung erwidert und Dir diesen Moment des Abschieds schenkt bevor er sagt, was mit „Berühre mich nicht“ für lange Zeit falsch übersetzt werden wird; denn was er sagt ist „Halte mich nicht fest“ – und dann lässt Du ihn gehen.

So wie Frauen zu aller Zeit getan haben, was zu tun ist: Ihre Männer gehen lassen – der Gottesherrschaft, dem Heldentod oder anderen großen Aufgaben entgegen – ihre Verletzten zu verbinden, ihre Toten zu salben, zu betrauern und zu begraben, weiterzuleben und vom Erlebten zu erzählen. Auch Ihr habt geredet, von der Auferstehung, von der Jesusbotschaft.  Apostola Apostolorum, so wirst Du, Maria Magdalena, irgendwann genannt werden, die Apostelin der Apostel.

Aber davon wisst Ihr nichts an diesem Morgen.
Ihr steht noch immer im Garten, Ihr seid erschüttert und verwirrt von dem, was Ihr da gerade erlebt habt. Und dann geht Ihr, langsam, zurück. Hin zu den anderen.

Text: Greta