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Von einer, die auszog…

Ein paar Tage bin ich nun wieder daheim. Auf dem Bauernhof, da, wo alles anfing. Ein „Gütel“ nennt man so ein Anwesen wie das unsrige, wenn es zum „Gut“ nicht reicht, wenn es zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel ist. Das Weideland konnte grade so zwei Kühe ernähren und von der wenigen Milch trotzte die Großmutter noch so oft es ging ein wenig Butter ab, die sie dann zwölf km mit dem Fahrrad in die Kreisstadt auf den Markt brachte, um ein paar Pfennige für den Haushalt zu bekommen. Sieben waren es, zwei Mädchen und fünf Buben, die sie hier geboren und großgezogen hat.

Der Älteste wollte den Hof nicht, er und die zwei Schwestern heirateten woanders ein.  Einer war krank und ging zugrunde und zwei blieben im Krieg, gefallen an irgendeiner Front. Der Jüngste, mein Vater, übernahm den Hof.

Der Zweitälteste, der ihn kriegen sollte, ließ eine Frau und einen kleinen Sohn zurück, als er den Heldentod starb, meinen Cousin, den ich endlich, nach so vielen Jahren am Rhein besuche.

Ich werde liebevoll willkommen geheissen, jeder Wunsch wird mir von den Augen abgelesen, ich bekomme ein ausgeklügeltes Besichtigungsprogramm serviert, ich stehe auf der Fähre über den großen Fluss, flaniere durch wunderschöne alte Städte, werde ins Elsaß kutschiert und stundenlang durch die Churpalz gefahren, durch hügeliges Weinbergland,  viel plaudernde Freundlichkeit ringsherum, ich werde als die Cousine aus Bayern herumgezeigt. Ich bekomme Einführungen über russische Raumgleiter im Museum und über Kernkraftwerke, zu denen man niemals Atomkraftwerk sagen darf.

Über mir im offenen Verdeck des Wagens ein Himmel, der mir höher und weiter erscheint als im  Voralpenland, P. freut sich und legt ihn mir zu Füssen.

Und in allen Besichtigungspausen, beim Essen und am Abend in der Wohnung reden wir über früher…eigentlich reden wir pausenlos über früher. Und als ich im Dom zu Speyer an eine romanische Säule gelehnt dastehe, denke ich, wie weit man doch manchmal herumfahren muß, um zu erkennen, daß die ganze Reise nach draußen nur das eine Ziel hat, innen anzukommen.

Merkwürdig, P. fährt mich mit großem Aufwand in seiner Heimat herum und zeigt mir alles, gleichzeitig reden wir aber über meine Heimat, die wohl auch mal seine war. Und, obwohl er ein glückliches Leben hatte, zieht sich durch alles Erinnern eine kleine Wehmut, ich spüre sie in allen Antworten, die er mir auf meine Fragen gibt, aber vor allem in den Antworten, nach denen ich gar nicht frage.

Er hätte den Hof geerbt, wenn sein Vater nicht verschwunden wäre. Diese Tatsache sitzt zwischen uns im Auto und ich ahne die Zeichen einer alten Verbindung zwischen uns, wir teilen den Schmerz von verlassenen Kindern. Ein Hauch von Glück , durch dunkle, traurige Geschichten unserer Abstammung zu gehen und uns im hier und jetzt über alle Ungereimtheiten hinweg die Hände zu reichen.

Wir sitzen im Auto und fahren durch unsere Erinnerungen.

Auf dem Michaelsberg erfahre ich von einer geheimnisvollen Geschichte über einen ehemals dort hausenden grausligen Drachen und ich freue mich so darüber, an diesem Ort gelandet zu sein, weil Drachen älter als die Welt sind und ich ihre Spur verfolge…P. versteht zwar nicht, was ich meine, aber plötzlich weiß ich, er würde mich beschützen vor allem Bösen. Und ich weiß, daß ich den großen Bruder, den ich mir so gewünscht hätte, ein Leben lang schon hatte, ohne es zu wissen. Ich sehe seine Hände an und sehe die Ähnlichkeit. Alle in unserer Familie haben diese eher großen Hände, warm und trocken. Arbeitshände, die zupacken können. Ich mag unsere Hände, auch meine, die ein wenig zu weich sind um ständig zuzupacken.

Und als wir zum Auto gehen auf dem Drachenpfad, da hätte sich beinahe die Hand der kleinen Schwester in die des großen Bruders geschoben.

Ich treffe dann auch noch den Stiefvater meines Cousins und irgendwann verabschieden wir uns, nicht ohne die feste Zusage, doch nochmal in die „alte Heimat“ zu fahren, ja, gerne , bei uns ist die Türe offen, wir sind auch in der Seele verwandt. Vollbepackt mit vielen Geschichten und noch mehr offenen Fragen, mit Umarmungen und guten Wünschen und ein paar Tränen im Augenwinkel mache ich mich auf den Weg.

Am Ende meiner Reise verfahre ich mich total im Gewirr unbekannter Straßen und stehe vor einer verschlossenen Pforte. Ein freundlicher Fremder bittet mich herein, führt mich in ein kleines verzaubertes Gärtchen und überläßt mich für ein paar Stunden  einem goldenen Nachmittag und meinen Gedanken, die durch mich hindurchziehen wie die weißen Wolken über mir am blauen Himmel.

Märchenhafte Geschichten von zwei Kindern und dem Verschwinden seines Vaters, ihrer Mutter…der gemeinsame Großvater, der die eine Mutter vertreibt und die andere anspuckt, der große Krieg, die weinende Großmutter…die Hand im Butterfass…und zwei , die alt geworden sind und sich liebhaben wie Brüderchen und Schwesterchen…

aus einem kurzen Schlummer erwacht sehe ich rings um mich herum wunderschöne Rosen, die sich duftend in einem Sommerlüftchen wiegen…

ja, es war eine schöne Reise, weit hinaus und doch hinein und wohin man auch fährt und was man auch sucht…ich glaube, letztendlich findet man immer nur sich selbst…

bedächtig nicken die Rosen ihre Zustimmung, ich danke dem freundlichen Fremden für das Glück in seinem Garten und dann fahre ich heim.

 

Reich

Am 24. Juli um halb zehn Uhr abends, vor unglaublichen 64 Jahren, ist mein Vater mit dem Motorrad heimgekommen und hat glücklich und aufgeregt ins alte Haus hineingerufen:
„a Dirndl hamma, jetzt mog i a Halbe!“

Am Tisch sitzen zwölf Leute im alten Getreidekasten, mit vielen Kerzen, denn es gibt dort keinen Strom. Alle sind gekommen, um mit mir in mein neues Lebensjahr hineinzufeiern. Wir teilen alles, den Braten, den Wein, das Bier und unsere Geschichten. Mit vielen verbindet mich jahrzehntelange Herzensfreundschaft. Es wird durcheinander geredet, laut palavert über Sorg und Leid aber auch über die ganzen „wisst Ihr noch, als wir damals…“ und was wir alles schon miteinander erlebt haben, wo wir schon überall auf Exkursion waren, weil ich wieder einer geheimnisvollen Geschichte auf der Spur war, die in Radlkeller statt Kulthügel endete. Und auch darüber, daß überall auf der Welt sich die Menschen gegenseitig totschießen. Und wir sitzen hier und uns laufen die Tränen runter, weil wir so viel lachen. Ja, es gibt immer diese Gleichzeitigkeit. Irgendwo wird immer geschossen und woanders gelacht.
Ich fühle mich so beschenkt, ich sehe diese freundlich lachenden frohen Gesichter und ich frage mich:  Würden wir es erkennen, wenn einer von uns verlorenginge, depressiv würde und droht, abzustürzen…ja, ich bin sicher, wir würden uns suchen und da sein füreinander und uns halten.
Was für ein Glück, zu wissen, es sind Menschen da, auf die ich mich tausendprozentig verlassen kann.
Wir verändern die Welt nicht, wir sind nur wenige, aber  wir halten zusammen und wenn ein paar neue dazukommen, wird der Kreis einfach erweitert.  Wie selbstverständlich das junge afghanische Paar mit Baby dabeisitzt und mitlacht, wir sprechen nicht die gleiche Sprache und doch verstehen sich alle prächtig.
Augenblicke des Glücks. Irgendwann wird die Gitarre ausgepackt und die ersten Klänge jagen mir einen Freudenschauer über den Rücken. Heute darf ich mir aussuchen, was gesungen wird und wie oft und alle singen gutmütig mit, um mir eine Freude zu machen…unzählige Male mein Lieblingslied „an der Saale hellem Strande“, und nicht mehr zu zählen, wie oft wir  „Wilde Gesellen, vom Sturmwind umweht singen, weil mir
„…uns geht die Sonne nicht unter“ so gut gefällt…

…alles, alles wird gesungen, alles darf ich mir wünschen, meine Güte , wie reich ich doch bin!

„Whatever you want“…bis hin zum „Schuld war nur der Bossa Nova“…zwischendurch wird geblödelt bis zum Abwinken, manche Töne liegen nicht mehr ganz exakt, aber wir singen mit Inbrunst und aus Freude…aus purer Lebensfreude.

Beim vierstimmigen, magischen „Alperer“ – Jodler bekommen wir nasse Augen.

Und dann ist Mitternacht und Irm singt das wundervolle Lied: „Mir gehts ähnlich“ und da ich nicht genug kriegen kann davon, singt sie es halt mehrere Male.

Schade, ich hab es nirgendwo gefunden, sollte es jemand haben, tät ich mich so freuen, wenn ich es hier erklingen lassen könnte! Ich hoffe ja, daß der wunderbare Herr Ärmel das liest und…

Na, was sag ich denn, hier isses schon! (Herr Ärmel,Sie haben was gut bei mir! )

 

Ja, und irgendwann gehen alle heim oder liegen auf dem Sofa in der Stube und ich sitze vor meinen Geschenken und fühle mich vom Glück umarmt. Ich bin so reich beschenkt mit Gutscheinen für Ausflüge an geheimnisvolle Orte, Zaubergeschichten, Rosen, ein Freund schenkt in wissender Vorausschau eine Schachtel Blues vom Feinsten, um mich für das neue Lebensjahr musikalisch gut zu versorgen und stark zu machen für alles, was so kommt…einer schickt mir einen Wunsch durch die Nacht, der mir Glanz in die Augen zaubert und ein Seelenverwandter sagt, daß jetzt die beste Zeit wäre, um so richtig neu durchzustarten…soviele gute Wünsche fliegen durch alle Welten, analog und digital,

als ich um fünf Uhr am Geburtstagsmorgen ins Bett falle, bin ich nur noch dankbar und trunken vor Glück und ich denk mir, wenn ich in diesem Moment stürbe, tät ich es als reichste Frau der Welt!

Morgen werde ich zum Vater Rhein fahren, freue mich so sehr darauf, an den Großen Fluß zu kommen.

Aber heute gehe ich noch zu meiner wilden Mama und lege ihr meinen Herzensdank und eine rote Rose auf ihr Grab. Denn sie hat mir das allergrößte Geschenk gemacht:

Mein Leben.

„Es ist einmal im Leben so…“

Am 9. April wäre meine Mama 94 Jahre alt. Unvorstellbar.

Am 09. 04. 1922 ist sie geboren, und wurde in der Wallfahrtskirche  der schmerzhaften Madonna in Mariaschein / Bohosudov, in Nordböhmen getauft. Bohosudov ist heute ein zentraler Ortsteil der Stadt Krupka in Tschechien, ca. sieben km nordöstlich von Teplitz – Schönau / Teplice.

Ihr Großvater mütterlicherseits, mein Urgroßvater, war Bäcker und Grundbesitzer. Ob das wirklich sich so zugetragen hat, daß der hundertste Erntewagen gefeiert wurde oder ob das eine der absolut glaubhaft vorgetragenen Geschichten meiner Mutter, der Märchenerzählerin, war, es ist mir völlig egal…mein Vater, der Moralist und Wahrheitsfanatiker, hat es ihr geglaubt…ach mein Vater, was wusste er schon von seiner fremden Frau?

Meine Großmutter ist mit 28 Jahren an der Schwindsucht gestorben. Vorher hatte sie zwei Mädchen geboren, meine Mama und ihre Schwester. Mein Großvater bekannte sich zur Vaterschaft, kam aber als Schwiegersohn zwecks Herkunft aus Schauspielerfamilie und deshalb mangelnder Seriosität nicht in Frage und durfte die Mutter seiner Kinder nicht heiraten.

Nach dem Tod der Mutter blieb das eine Mädchen bei den Großeltern und meine Mama wurde vom Vater mitgenommen in ein unstetes Gauklerdasein. Von Ort zu Ort, leben von der Hand in den Mund, große Saufgelage bei guter Kasse, wunderbares, aufregendes Leben, immer unterwegs, immer Applaus, immer bei ihrem geliebten Vater, dem Chef der Truppe, davon erzählte sie mir…von den Zeiten, in denen die Kasse leer war, sagte sie nichts.

Ihre Geschichten, dieser Schatz, den sie mir hinterließ, handeln immer von einem Gauklerleben mit einer Art Wanderbühne. Und ziemlich sicher ist, daß sie nie die Ophelia spielte, sondern irgendwelche Rollen in kitschigen Operetten und Boulevardkomödien, viel mit ihrem Cousin Richard, den sie liebte…es blieben nur Geschichten, in denen ich auf mich wirken lasse, was zwischen den Worten steht und davon handelt, wer sie war…

Theater-klein

Was macht die kleine Truppe eines Schmierentheaters irgendwo am Abend nach der Vorstellung…ja, ziemlich viel Blödsinn…in Sektflaschen pinkeln, die das Kind trinkt, weil es denkt, es sei Limonade…baden gehn im Attersee bei Vollmond und mein Großvater wischt sich ein paar Seegräser vom Kinn und hält den Kopf einer Ertrunkenen in der Hand…ach und all die Klamotten vom Leben auf der Bühne…

Heute werden diese Theatergeschichten nicht mehr erzählt, es hat sich alles gewandelt. Einer der letzten großen Komödianten, Maxi Böhm, der alle seine Geschichten immer damit begann: „Sie, ich kenn da einen in Reichenberg…“ hat Ähnliches erzählt wie meine Mutter, es handelt meist vom wilden Improvisieren, wenn wichtige Requisiten fehlten oder der Text oder irgendwas nicht funktionierte, dann wurde aus dem Stehgreif heraus was erfunden, was zu komischen Einlagen führte und das Publikum bestens bei Laune hielt.

Das konnte meine Mama, aus nichts ein wunderbares, wenn auch manchmal etwas seltsames Essen kochen und aus langweiligen Gästen ein fröhlich lachendes und ihr zujubelndes Publikum, das amüsiert um den Stubentisch saß und nicht mehr heimgehen wollte.

Mit 24 Jahren wurde sie aus Karlsbad verjagt und mit Viehwaggons in bayrische Sammellager transportiert und von dort in irgendeiner Gegend irgendeinem Haushalt zugeteilt. Damals war sie verheiratet mit einem, der irgendwo im Krieg verschollen ging.

Mein Vater konnte sie erst heiraten, als der erste Mann für tot erklärt war. Von ihm hat sie mir nie erzählt, kein Wort, da gab es keine Geschichte. Auch nicht von dem toten Kind, das sie angeblich geboren hatte, von dem ich aber erst viele Jahre nach ihrem Tod erfahren habe.

Als sie kam, hatte sie nichts dabei außer einem Fotoalbum mit ein paar wenigen Bildern von ihrem Vater und seiner neuen Frau und ihren Kindern, einem Bild von sich auf irgendeiner Bühne und ein paar Bildern, von denen sie mir nie sagte, wer die Menschen waren, die mich anschauen.

Es passt nichts, gar nichts zusammen, ich habe keinen roten Faden durch ihre Biographie, die Zeitangaben stimmen nicht überein.

Zwischen den Zeilen der lustigen Geschichten der Boheme eines Wandertheaters scheint das traurige Schicksal eines Kindes durch, um das sich niemand richtig kümmerte und das keine Heimat hatte.

Und hier bei uns war sie auch wieder eine Fremde und das blieb sie bis zu dem Zeitpunkt, als sie für immer davonflog.

Sie konnte so wunderbar blödeln, es war ihr nichts heilig, sie hatte diesen Humor aus dem Osten, der Menschen grade dann zum Lachen bringt, wenn eigentlich alles zum Weinen ist…“Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, ja, das passte auf sie! Irgendwann schien das Weglachen nicht mehr zu genügen, da setzte sie sich auf ihr Fahrrad und verschwand…mein Vater suchte sie wochenlang, bis er sie fand, irgendwo in den Bergen auf einem verwahrlosten Bauernhof, da nahm er sie wieder mit nachhause. Dann versuchte sie, sich wegzusaufen. Eines Vormittags lag sie tot auf dem Sofa, kurz nach ihrem 46. Geburtstag.

Sie hat mir nichts zurückgelassen außer einem großen Knäuel Traumgarn, an dem Geschichten hängen und das sich, je mehr es abgewickelt wird, neu nachspinnt.

Und zwei Einträge in Poesiealben, einen für mich

Poesie1

 

und einen für das Fräulein Poldi, einer gleichfalls Verjagten, die mit ihrem Bruder in unserem Stüberl hauste – geschrieben mit dem Pelikano Füllfederhalter, den ihr mein Vater geschenkt hatte.

Poesie2

„Es ist einmal im Leben so…“ ist ein Lied aus der Operette „Zum Weissen Rössel“ und sie liebte dieses Lied, ich glaube, daß ich heute, fast fünfzig Jahre nach ihrem Tod endlich verstehe, warum.

Nicht nur in meinem Herzen wird am 9. April eine Kerze brennen für meine wilde, einsame Mama und dieses Lied schicke ich auch noch nach, hinauf zu den Sternen!

 

 

Damals im Altvatergebirge

Mindestens ein Jahr lang war ich auf der Suche nach dem Film:  „Alois Nebel“, einer Graphic Novel. Der Tailer allein hatte mich sofort in diese Geschichte eingesaugt, es gab kein Entkommen mehr.

Das einzige Kino in München, das ihn zeigte, nahm ihn sofort wieder aus dem Programm, nachdem nur ein einziger Mensch ihn sich ansah.

Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, da veranstaltete das Literaturhaus Salzburg ein deutsch-tschechisches Kulturfestival und endlich wurde der Film gezeigt und hinterließ nachhaltige Spuren und bis heute habe ich Bilder und Musik im Kopf.

Ich halte diesen Film für herausragend in jeder Beziehung, möchte aber kein Wort mehr darüber verlieren, denn Bludgeon, dem „Alois Nebel“ auch unter die Haut ging, hat dazu was erarbeitet.

Einen Text, der so dicht ist und schmerzend wahrhaftig – ach einfach so gut geschrieben, mit großem Wissen und aus dem Herzen, kann ihn nur empfehlen:

Bludgeon – Alois Nebel

Ja, in diesem Film geistert auch meine Mutter irgendwo durch den dunklen Wald. Bis heute weiß ich nicht, von welchem Ort genau sie „vertrieben“ wurde…war sie gerade in Karlsbad, oder wo wurde sie gepackt und in einen Viehwaggon gesteckt? Ich werde es wohl nie mehr erfahren, sie ist schon so lange tot.

Was ich aber mit erschreckender Klarheit weiß: Ich wäre ohne die Verteibung meiner Mutter nicht am Leben. Was für merkwürdige Fügung.

 

die Band, untrennbar mit dem Film verbunden

Untertauchen…Auszeit

Seit einiger Zeit schon stelle ich fest, daß ich immer süchtiger und gieriger werde nach Klicks und freundlichen Kommentaren, den Rechner kaum noch ausschalte, um ja nichts zu verpassen und mich zunehmend in den Weiten und Spiegelhallen des großen Netzes verirre. Ich schreibe unzählige Mails, quatsche hier und dort herum, hacke  Zeugs in die Tastatur, rede mich um Kopf und Kragen, vergesse, wem ich wo was geschrieben habe, bringe Namen durcheinander, suche verzweifelt nach Bestätigung und Anerkennung und sehne mich ständig danach, bemerkt zu werden.

Je mehr ich mich im Netz herumtreibe, um so undurchsichtiger und trüber wird alles.

Da ich nicht verloren gehen möchte, habe ich entschieden, für die Dauer der Fastenzeit eine Blogpause zu machen und von hier mal zu verschwinden.

Ich werde statt am Rechner mehr am Bach sitzen, in das klare Wasser bis zum Grund schauen, seinem Gesang zuhören und darüber nachdenken, warum ich blogge, was mir gut tut und was nicht, wo ich herkomme und wo ich hinmöchte, werde ein neues Projekt beginnen und ein altes wieder ankurbeln, über eine Ausstellung nachdenken und künstlerischen Austausch mit Gleichgesinnten pflegen.

Es ist mir dringend abgeraten worden, eine Pause zu machen, da wäre ich „weg vom Fenster“ und alle meine Kontakte auch! Das muß ich riskieren. In meiner Seele muß sich etliches klären, dazu braucht sie die Einsamkeit und einen Schreibtisch, auf dem leeres Papier liegt und ein paar Stifte, ohne die ständige Ablenkung eines flimmernden Bildschirms und seiner Illusionen.

Wer an mir Interesse hat, und Kontakt möchte, wird nach mir suchen und mich auch ohne Netz finden und alle anderen fliegen weiter, das ist halt so.

Wahrscheinlich kommt die Graugans nach der Fastenzeit wieder, vielleicht in der Karwoche, ich weiß es noch nicht.

Gewiß ist, daß sie Euch dann freudig schnatternd begrüßen wird, wenn Ihr sie hier besucht!

Viele liebe Grüße,

habt Dank von Herzen für Eure freundliche Aufmerksamkeit bisher

Eure Graugans, leise schnatternd…

John

angeregt durch:
Geschichtengenerator von Jutta Reichelt

 

Lieber John

Es ist alles schon so lange her, da standest Du eines Tages auf dem Flur jener Station im Kreiskrankenhaus, auf der ich als Lernschwester gestrandet  war. Wir waren beide so um die 18 / 19 Jahre alt. Ein viel zu großer Arztkittel hing an Deinem langen, dürren Gestell, unten schauten zerbeulte Jeansbeine heraus, die etwas ausgefranst da endeten, wo nicht ganz saubere Clarks anfingen. Du hattest glänzende schulterlange dunkle Haare, einen zotteligen, dunklen Jungmännerbart, den weichsten Mund, den ich je gesehen hatte und Augen, die mich so sanft und gutmütig anlächelten…ich mochte Dich sofort, auf der Stelle.

Wir hatten kaum was miteinander zu tun, es trennten uns Kontinente, wenn nicht gar Welten, Du hast das vorgeschriebene Praktikum absolviert, um dann Medizin zu studieren und warst meist in der Nähe der Ärzte, sehr weit entfernt vom Dasein einer Lernschwester.

In Pausen standest Du, meist übernächtig und blass, irgendwo mit den anderen Praktikanten zusammen, Ihr habt über die „wirklich harten“ Sachen von irgendwelchen Bands gesprochen und von brandneuen Scheiben…manchmal stand ich dabei, konnte aber nicht mitreden, weil ich bis heute noch nicht weiß, von was für Musik Ihr damals gesprochen habt. Ganz sicher waren es nicht Herman´s Hermits oder Smokie und  Creedence Clearwater Revival, die ich liebte, waren sicher auch nicht „hart“ genug, oder?

Immer warst Du sehr freundlich, und wenn Du mich angeschaut hast, mit so sanften Augen, dann, lieber John, spürte ich nicht mehr die Last dieser Katastrophe zuhause, die ich mitschleppen musste, sondern dann war ich einfach jung und unbeschwert und tanzte durchs Leben.

Manchmal sah ich Dich mit ein paar Kumpels irgendwo auf Parties herumstehen, Du hast mich angesehen, das wars aber auch schon.

Irgendwann hab ich all meinen Mut zusammengenommen und Dir einen Brief geschickt. Dieser Brief war lang und zwei Drittel handelten davon, daß ich ja eigentlich nichts von Dir will, wie das halt ein junges, verträumtes und schüchternes  Mädchen so schreibt, das genau das wollte und am liebsten Tag und Nacht Deinen weichen Cat Stevens Mund geküsst hätte…

Mit großer Sehnsucht, aber ohne Hoffnung, daß Du mir zurückschreiben würdest, hast Du genau das getan! John, Du hattest meine Worte ernst genommen und mir auf vielen Seiten mit der unglaublich bezaubernden Poesie eines verträumten jungen Mannes ganz zart versucht, klarzumachen, daß aus uns wohl nichts werden kann.

Kurz danach warst Du weg, wir haben uns nie wieder gesehen. Für mich begannen die wilden Münchner Jahre, Deinen Brief habe ich immer wieder mal gelesen und es wurde mir warm ums Herz dabei. Irgendwann verblasste die Schrift und ich habe ihn feierlich verbrannt.

Vor ein paar Monaten fuhr ich zufällig an Deinem Heimathaus vorbei und sah Dich am Auto stehen, Du warst dabei, Gepäck auszuladen aus dem Kofferraum. Du hast wohl meinen Blick gespürt auf Deinem Hinterkopf, denn Du drehtest Dich um und unsere Augen saugten sich ineinander, nach über vierzig Jahren. Du bist ein schöner älterer Mann geworden, John, ja, vielleicht siehst Du immer noch ein wenig aus wie Cat Stevens, Du bist viel kleiner als ich Dich in Erinnerung hatte, genau noch so dünn und etwas ungelenk in den Bewegungen…ob Du wohl noch genau so meckernd lachst wie früher…ich fürchte, Du schreibst schon lange keine poetischen Briefe mehr, nicht wahr, John? Und ob Dich heute noch jemand John nennt? Unwahrscheinlich. Auf Deinem alten Bubengesicht sind die Spuren vieler Jahre Allgemeinarztpraxis, Ehe, Kinder, Enkel, Eigenheim und großes Auto sichtbar…aber Deine Augen sind sanft geblieben, und Du bist immer noch so blass, John.

Als ein entgegenkommendes Auto hupt, fahre ich weiter, ich drehe mich um und sehe, daß Du mir nachschaust. Ich glaube nicht, daß Du mich erkannt hast.

John, damals, der Brief von Dir, da mußt Du was übersehen haben, das war ein Liebesbrief.

Der schönste in meinem Leben.

 

Menschenschwärme

Daß die toten Menschen im Lkw auf irgendeinem Parkplatz an der Autobahn erst entdeckt wurden, als sie sich bereits in stinkender Brühe aufzulösen begannen, die heruntertropfte, das hat mich in eine abgrundtiefe Traurigkeit versetzt und den kleinen Buben, der tot am Strand liegt, bringe ich nicht mehr aus dem Kopf. Wenn es stimmt, was im Talmud steht, daß, wer ein Menschenleben rettet, die ganze Welt rettet – dann stimmt auch der Umkehrschluß, dann geht die Welt bei jedem vergeudeten Leben unter.

In der Zeitung steht neben einem Spendenaufruf: „Jedes Kind ist ein Zeichen der Hoffnung für diese Welt.“ Ja, und der Kleine, der da im Sand liegt, ertrunken, weil es bei uns nicht möglich ist, legal ins Land zu kommen, der war wohl auch mal ein Zeichen der Hoffnung, und was ist er jetzt?

Der Kapitalismus und damit seine Eliten hätten abgewirtschaftet, schreibt der Philosoph Armen Avanesian in seiner „Kampfschrift“, einem blitzgescheiten Aufsatz zum gegenwärtigen Durcheinander der ins Land drängenden „Menschenschwärme“ und die verachtenden „Lösungsvorschläge“ für die „Flüchtlingsproblematik“.

Das Land ist reich, sehr reich sogar und alle haben Angst, der Reichtum könnte weniger werden und wir wären in irgendeiner Weise nicht mehr abgesichert. Und dann kommen da Hunderttausende und wollen uns alles wegnehmen. Was wir nicht gerne denken ist die Tatsache, daß Kapitalistische Wirtschaftssysteme weltweit nur funktionieren, wenn sie auf systematischer Ungerechtigkeit und Rassismus aufbauen und auf Ausbeutung angelegt sind, von liberaler Freiheit und Gleichstellung kann keine Rede sein. Und dies führt zweifellos irgendwann zu Abwanderung von denen, die grad am meisten darunter leiden. Höchstwahrscheinlich ist eh immer der der Mächtigste, der über den Transit herrscht. Und die Kriege, die in „diesen Ländern“ von den ganz Bösen angezettelt werden – deren Kriege sind immer auch unsere Kriege, das sollte mal in unser Denken einsickern.

Was tun? Momentan einfach alles, was wir können, um Symptome zu lindern, unterbringen, versorgen…aber das wird auf Dauer nicht reichen, daß wir Millionen von Menschen irgendwo in abgelegenen Asylantenheimen als Randproblem unserer Gesellschaft verstecken? Wird es zur radikalen Transformation unseres Wirtschaftssystems kommen wie Avanessian voraussieht, und „das Fass der postdemokratischen Ignoranz zum Überlaufen und uns alle gemeinsam einer Lösung näherbringen“?

Was weiß ich. Ich sehe im Fernsehen Bilder von Menschenmassen im Münchner Hauptbahnhof, die einen kommen übermüdet aus den Zügen und die anderen versuchen ihnen durch Aufstapeln von Stofftieren und Altkleidung zu vermitteln, daß wir durchaus geruhen, so gnädig zu sein, sie aufzunehmen, wenigstens so lang, bis geklärt ist, wer tatsächlich würdig ist, in diesem heiligen Lande weiterhin leben zu dürfen. Alle scheinen für einen Augenblick glücklich zu sein, am Münchner Hauptbahnhof. Ein kleiner Bub saust schnell von der Hand seines Vaters weg, schnappt sich von einem Plüschtierhaufen einen Teddybären, klemmt ihn unter seinen Arm und geht an der Hand seines Vaters weiter, einem Ausgang zu.

Im Aldi bewegen sich die Leute, die auf dem Parkplatz die teuren Automarken stehen haben, langsam in der Schlange vor dem begehrten Backautomaten vorwärts. „Bitte gedulden sie sich einen Moment, unser Produkt wird ofenfrisch für sie zubereitet!“ – sagt eine sehr freundliche Stimme aus dem Nichts.

Es fällt mir das Bild wieder ein, ein Foto, irgendwo in Syrien, ein Kind liegt mitten auf der Straße, es ist an einem Bauchschuß verblutet. Die Mutter hatte es losgeschickt, es sollte ein Brot holen vom Bäcker auf der anderen Seite.

F.

In verblichenen, ausgefransten Papierstößen, aus denen Staub und Dreck rieseln, finde ich nicht das, was ich suche, aber auf einmal fallen mir die Stammbäume meiner AhnInnen in die Hände. Niemand hat sich dafür über die Jahrzehnte hinweg interessiert. Ahnenpässe, Arbeitsnachweise, eidesstattliche Erklärungen über das Nichtvorhandensein jüdischer Familienmitglieder, Sterbeurkunden und Taufzeugnisse, Nachweis Gesundheitsprüfung und ob DDT angewendet wurde zur Vernichtung der Kopfläuse mit unleserlicher Bemerkung, ausgestellt in einem Zwischenlager in Donauwörth, dann fällt ein brauner Behördenzettel zu Boden, darauf steht der Name meiner Mutter  :  Flüchtling

ich fange an zu weinen.