Archiv für den Tag: 17. April 2024

# 47 Wüstenstaub, Borges, Schygulla und ich

Als ich vor ein paar Tagen vom Einkaufsmarkt zum Parkplatz gehe, steht da ein einziges, kleines Auto, das so gelb bepudert ist, daß man kaum mehr seine ursprünglich schwarze Farbe erkennt. Am Tag zuvor sah ich die Wolke über dem Hügel stehen, schwefelgelb  und sonderbar. Der Löwenzahn sorgt um diese Jahreszeit auch für gelben Staub, den der Wind von unten nach oben wirbelt. Aber der Staub, den eine Wolke von oben herunterbröselt, ist eine andere Kategorie. Wüstenstaub aus der fernen Sahara wurde angekündigt und jetzt ist mein Auto gelb und ich träume von dem Märchenland hinter den Pyramiden, uferloser Sand, nichts wie Sand und ich höre den ägyptischen Guide, der mir erklärt, wo die libysche Wüste beginnt und „wo Gaddafi wohnt“. Ich denke an den Sichelmond, der wie eine Barke über den Nachthimmel segelte, und überhaupt an diesen Himmel, der über der Wüste viel höher zu sein scheint als daheim, und ich sehe die zerschossene Nase der Sphinx … von so weit her kommst Du also, Wüstenstaub. Ich wische die Windschutzscheibe ab, damit ich was sehen kann, der übrige Staub darf bleiben, irgendwann wird ihn der Regen abwaschen. Aber warum ist mein Auto das einzige, das gelb ist.? Entweder hat der ganze Fuhrpark auf dem Parkplatz eine Garage oder es haben alle von gestern auf heute ihre Autos gewaschen, denn alle sehen wie frisch poliert aus!

Warum werden eigentlich die Autos ständig geputzt? Über Ostern fuhr sicher außer meinem kein einziges ungewaschenes Auto durch die Gegend. Warum wird überhaupt so viel geputzt? Warum putzen Frauen ständig die Wohnung und die Männer ständig die Autos? Warum ist ständig und überall die Sauberkeit in und um Räume so ein raumgreifendes Thema, alle schimpfen über diese ständige Putzerei, räumen ihr aber trotzdem soviel Lebenszeit ein. Am schlimmsten ist für mich das Geräusch des Staubsaugers, ich beschränke es auf höchstens einmal im Monat. Und ich putze erst, wenn es wirklich dreckig ist und nicht nahezu ständig, damit es nicht dreckig wird. Und je älter ich werde, umso weniger verstehe ich, warum Dreck schlecht ist und Sauberkeit gut. Ich sitze ganz bestimmt lieber in einer Wohnung, der man nichtaufgeräumte Lebensspuren ansieht, mit Menschen plaudernd am Tisch als in frisch polierter und durchstrukturierter Umgebung, wo man nicht wagt, sich zu bewegen, weil man sonst die Ordnung stört.

Draußen schneit es riesige Flocken und ein kalter Wind weht übers Land. Ich mag dieses Wetter, weil das viel mehr zum April gehört als sommerliche Temperaturen.

Das Buch, aus dem ich vorhin aufgetaucht bin und das neben mir liegt, ist die Autobiographie („Wach auf und träume“) von Hanna Schygulla. Sie hat sie in dem Alter geschrieben, in dem ich jetzt bin. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen und sie hat die 80 überschritten. Ich mag sie heute als alte Frau mehr denn je. In einem Film mit ihr über ihr Leben ging ein Strahlen von ihr aus, das ich nur mit einer zärtlichen Weichheit beschreiben kann, in den Bewegungen ihres Körpers, ihrer Stimme und in diesen sanft glänzenden Augen einer Träumerin.

Ein Buch hat sie geschrieben, voller Poesie, in dem sie vieles aus ihrem Innersten offenbart und doch nichts  verrät, von den Geheimnissen, mit denen und für die sie lebt. Merkwürdigerweise kommt mir auch in diesem Buch ein Schriftsteller entgegen, der durch alle möglichen Wege in anderen Büchern in mein Leben hineinleuchtet, meine Nähe zu suchen scheint und auf sich aufmerksam macht: Jorge Luis Borges. Schygulla bekommt irgendwann bei Dreharbeiten in Argentinien einen Zettel zugesteckt, auf dem die folgenden Worte stehen:

„Alles ist ein stummer Buchstabe einer unentzifferbaren Schrift“. (Borges)

Und sie schreibt dazu: „Sichtbar werden hinter diesen Worten die Wasserzeichen des Geheimnisvollen, das ich brauche wie das täglich Brot, um gern zu leben.“  Und ich  … ich habe sofort das Gefühl, daß ich jetzt auch von ihr diesen Zettel zugesteckt bekomme, auch ich suche und brauche das Geheimnisvolle, um zu leben.

Ich hätte gerne ihr Programm gesehen „Borges, der Tango und ich“, das sie in den 90er Jahren auf der Bühne spielte. Sie sang alle Lieder auf spanisch. Komponiert und mit dem Klavier begleitet hat sie ein inzwischen weltbekannter Künstler, mit dem zusammen ich in jungen Jahren noch vor seiner Karriere über längere Zeit im gleichen beruflichen Umfeld gearbeitet habe. Schon damals schätzte ich ihn sehr, obwohl wir in unseren Auffassungen ziemlich getrennt voneinander agierten und ich ihn sehr viel besser kannte, als ihm lieb war. Das Leben geht seltsame Wege, um nicht zu sagen: wir wandeln in „Gärten, deren Pfade sich verzweigen“ (Borges)

Hab Dank, Freundin, daß Du mir von dieser Autobiographie erzählt hast und Hanna Schygulla danke ich, daß sie darüber schreibt, wie sie ihr Leben in ihre weichen Hände nimmt und es in Güte und Zärtlichkeit betrachtet … was könnte dem Leben Schöneres widerfahren? Ich hab es erst zur Hälfte gelesen und freue mich auf alles, was noch kommt.

Und ich liebe es sehr, wenn ich in einem Buch zu einem anderen Buch gelenkt werde, so wie jetzt, da ich in den „Fiktionen“ wieder einmal  „Die kreisförmigen Ruinen“ lese, von dem Mann, der so lange seine Figuren träumt, bis sie wirklich sind und an einem Schicksal tragen. Diese flirrend geheimnisvolle Welt … der Spiegel im Spiegel im Spiegel … kein unwirkliches Verstehen, aber wirkliches Erspüren möglich, für eine Träumerin wie mich.

„Lassen Sie mich ein, ich werde für Sie träumen“ (H.Schygulla)

Ja.

 

Und diese Region durchträumt die Kraulquappe