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Die Schlucht

Ein paar vereinzelte Schneeflocken segeln aus der dunkelgrauen Pferdedecke, die schwer am Himmel hängt.  An klaren Tagen kann man von hier aus auf die Salzburger Berge, den König Watze samt Frau und Kindern und womöglich bis weit ins Dachsteinmassiv hineinschauen. Alles ist mir bekannt und vertraut und doch bin ich fremd hier. Ich war schon bei den Pyramiden, aber noch nie hier an diesem Ort, 20 km von daheim. Dem großen, behäbigen Klotz von einem Hof, malerisch alleine auf der Hügelkuppe, hat man schon lang die filigranen Ursprünge herausgebaut. An der Hinterseite des Stalles scheint eine alte, windschiefe Mauer den Zeitläuften zu trotzen. Ein paar knorrige Nußbäume und ein vermooster Hollerbusch stehen davor, man stützt sich gegenseitig.

Es ist aufgeräumt und sonntäglich still, keine Menschenseele zu sehen. Das heisere Gebell des unsichtbaren Hundes klingt nach Einsamkeit und Kette.

Im Rand des dunklen Fichtenwaldes soll eine Pforte verborgen sein, durch die man zum Abstieg in eine tiefe Schlucht gelangt. Wir irren herum, es schneit jetzt heftiger und dann, es läuft mir ein Schaudern über den Rücken, sehen wir die Schlucht unter uns und es ist mir, als müsste ich eine unsichtbare Schwelle überschreiten.

Ein Forstweg mit den selten gewordenen Spuren eines holzschleifenden Ackergauls schlängelt sich neben dem tief eingegrabenen ausgetrockneten Bachbett hinunter. Uralte Sagen ranken sich um diese Gegend. Gleich auf der Anhöhe hinter dem Wald steht eine Kirche ganz alleine da, nur umgeben von ein paar Ringwällen. Die dazugehörige Burg hat die Zeiten nicht überdauert, das Geschlecht ist längst untergegangen und aus den Mauern wurden die umliegenden Gehöfte gebaut.

Nachweisliche Historie verliert sich in diversen Vergangenheiten. Geschichten sind übrig geblieben. Dunkle Geheimnisse um diese Schlucht, an deren Ende eine Felswand sein soll mit einem Gang zu einer Raubritterburg , verschlossen durch die eiserne Türe. Es ist die Rede von den Venedigern, gesteinskundigen kleinen Männern,  die „fühlig“ waren, d.h. sie konnten erkennen, wo Erze im Boden wuchsen … wir gehen den steilen Abhang hinunter auf einen alten Jahrmarktsplatz zu, auf dem heute hundertjährige Eschen stehen, wo früher die Karren der Schausteller und Händlerinnen ihre Ware feilboten und wo getanzt wurde; aber vor Mitternacht musste Ruhe sein, denn dann „ging es um“, dann trieb dort der Teufel mit wilder Horde sein Unwesen…

Die Schlucht zieht sich, es wird immer dunkler, der Wald ist mir nicht geheuer, in meinem Kopf sprechen sich die Geschichten,  um mich herum Nadelbäume in finsterer Monokultur … „was mache ich hier ?“- dieser Satz von Bruce Chatwin begleitet mich  … die Füsse versinken im angetauten Morast.

Kannst du nicht wenigstens ungefähr sagen, nach was wir eigentlich suchen, fragt mich der Fotograf und verschwindet im Unterholz. Nach was suche ich denn … nach diesem „heimlichen Grund“ der Höhlenkinder vielleicht, sage ich, nach diesem erregenden Gefühl von Fremde und Aufbruch und Angst und Wildnis und Abenteuer und was weiß ich, vielleicht auch nur Lust, einfach Lust und Hunger auf das Leben die sich meiner bemächtigten, und mich nie mehr ganz losließen, seit ich als junger Mensch diese Bücher las.  Ein paar Frauen mit langen wehenden Röcken überholen mich, zwei laufen weiter und eine setzt sich auf das abgebrochene Geländer des hölzernen Steges, der über den Bach führt. Biberfräulein heißen sie in den Geschichten, zu dritt und schwarzweiß sollen sie sein, meist taucht nur eine von ihnen auf und hilft zwar immer wieder den in Not geratenen, aber man hält sie für unberechenbar. Man meidet ihre Nähe, denn manch ein Versuch von jungen Burschen, mit ihr zu scherzen, endet tödlich. Sie gibt und nimmt, bindet und löst , beherrscht das Wandeln und Bannen, das Unsichtbarmachen und ein Blick von ihr läßt aus einem starken Mann einen liebeskranken, ergebenen Diener werden.

Die Frau neben mir auf dem Geländer schlenkert mit den nackten Füssen und singt leis vor sich hin, die Melodie kommt mir bekannt vor, … das Lied handelt von einem, dem das Herz so weh tut, wenn er ein spezielles Mädchen anschaut, das so schwarze Zöpfe hat und rote Wangen und weiße Haut … meine Großmutter hat es immer mit mir gesungen. Und ich lehne mich an das Geländer und singe das alte Lied mit dieser fremden Frau, dicke Schneeflocken verkleben die Augen, nur schemenhaft bemerke ich in meinem Augenwinkel ein graues Fellbündel. Ein Hund? Nein, eher ein Wolf, ich kann ihn nicht gut sehen, denn wenn ich genauer hinschaue, verschwindet er. Sag mal, in diesen vielen Geschichten da steht aber nichts davon, daß Dir ein Wolf folgt, oder?

Mit einem hellen Auflachen springt die Frau mit einem Satz vom Geländer, dreht sich zu mir, geht durch mich hindurch, läuft mit wehendem schwarzen Rock einen kleinen Pfad entlang und verschwindet in einer Felswand. Ich stehe da, und lausche dem leiser werdenden glockenhellen Lachen hinterher … wer ist sie … Fee oder Königin … Spuk, Traum … ihr Gesicht … sie hatte keins.

Ich fühle mich beobachtet. Du bist ja noch da, sage ich und sehe seine alten Augen in einem grauen Fell, und als ich dem Weg der Königin folge zur Felswand, da scheint er mich zu begleiten, ich spüre ihn mehr, als ich ihn sehen kann, merkwürdig vertraut … als wäre es schon immer so gewesen.

Dort angekommen an dieser Wand aus Nagelfluh suche ich die Türe, aber da ist nichts. Nur Stille, heimlicher Grund, wie eine Falte in Raum und Zeit, nur ein paar Schneeflocken und die Sterne umkreisen mich tonlos … was ist, wenn nichts mehr ist …

Alles.

Ist.