»Werdet Vorübergehende« (Th. 42)
Früher, wenn es so mondhell war wie jetzt, dann konnte man nicht nur hören sondern auch sehen, wie er unten im Tal auf der nächtlich unbefahrenen Bundesstraße daherkam. Und auf der kleinen Brücke, da wo der Weg zu uns hinaufführt, da hat er sich kurz zum Rasten auf das Geländer gesetzt. Dann ist er weitergegangen immer Richtung Osten, heimzu. Eine spindeldürre Gestalt, einen Gehstecken in der Hand und auf dem Kopf einen Hut. Den hat er manches Mal übermütig den Juchzern, die aus seiner Kehle zum Himmel flogen, hinterher geworfen. Es war so still damals in der Nacht, man hörte ihn schon von weither singen. Sein Repertoire bestand aus allem, was er in seinem bisherigen Leben gehört hatte, das Meiste „ein ziemlicher Schmarrn“, wie mein Vater es ausdrückte. Mit Inbrunst hat er das Kufsteinlied, den Schneewalzer und zum Leidwesen meines Papas das romantisierende „Alpenglühn“ gerne und oft gesungen.
Ich sitze auf der Hausbank, über mir der silbertropfende Mond, dem die wieder heruntergelassenen österreichischen Grenzbalken völlig wurscht sind, er ist einfach oben drüber geflogen, weil er das schon immer so gemacht hat und es auch in Zukunft so machen wird, ob mit oder ohne Viren. Es ist so unglaublich still, nur manchmal ein leises Flattern in den Bäumen, ein Nachterl(Käuzchen) ruft und die einzigen Flugobjekte sind ein paar kleine Fledermäuse, die blitzschnell und lautlos in den Tiefen der Nacht verschwinden.
Wie gern würd ich heute den Geislechner Miche wieder singen hören. Damals galt er als komischer Kauz, wer kam denn schon in der Nacht lauthals singend auf der Bundesstraße daher? Und am nächsten Tag sagten die Leute: hast es gehört, gestern war der Miche wieder unterwegs und: jamei, er ist halt nicht so ganz richtig im Kopf… von Zeit zu Zeit kam er durchs Tal, meist vor Feiertagen, so wie jetzt vor Ostern und man hörte seine Stimme, eine Art Tenor, aber so genau kann ich mich nicht erinnern, nur, daß er sehr laut gesungen hat in schwindelerregende Höhen hinauf und so grad noch am äußersten Rand der für die Lieder beabsichtigten Tonfolgen, manchmal auch ein bisserl, also haarscharf, daneben. Er hat die Liedfolgen abgesungen und dann fing er wieder von vorne an. Niemals wieder habe ich : „Schau das Alpenglühn überm Bergsee“ schmalziger und inniglicher singen gehört wie vom Miche … und auch wenn wir uns noch so anstrengten, würden uns die Jodler nie so herzergreifend aus der Brust springen wie die seinen und die Juchizer dazwischen.
Irgendwann hab ich ihn zum letzten Mal singen gehört und dann nie wieder. Irgendwann ist er zum letzten Mal an uns vorübergegangen, heimwärts …
Und irgendwann, es ist noch gar nicht so lange her, habe ich mit der alten Nachbarin geplaudert und sie hat mir erzählt, daß der Miche aus einem kleinen Häusl stammte, viele Kinder waren da, die taten sich schwer in der Schule und viel Geld hätte es sicher nicht gegeben. Der Miche hat in Adelhozen gearbeitet, da, wo das Heilwasser herkommt, das vor undenklicher Zeit der Hl. Primus als Quelle im Wald gefunden hat. Was er da gearbeitet hat, weiß man nicht und ob sie ihm viel Geld dafür bezahlt haben … aber wenn er am Wochenende mal frei hatte, ist er am Abend nach getaner Arbeit heimgegangen. Das sind ungefähr 15 km, und da hat der Miche ganz laut singen müssen, weil er sich so arg gefürchtet hat im Finstern.
Ach, was gäb ich drum, wenn ich ihn hören tät heute … ich würd ihm zuwinken und mitsingen, ganz laut und das schmalzigste aller Lieder am Allerlautesten.
Das Lied ist für Dich, Geislechner Miche, Du kennst das Geheimnis:
wir sind alle Vorübergehende … heimwärts
ja. das sind wir –
(so einen stillen karfreitag wie diesen, heute, hab ich, scheint mir, noch nie erlebt. ein tag voller erinnerungen war es für mich, bilder aus der kindheit, bilder vom leben in dem dorf, wo ich aufgewachsen bin, und ein „heimweh“ beim schauen dieser erinnerungsbilder … jetzt bin i berührt von deinem bild, deiner erinnerung, liebe graugans!)
<3 pega (nachterl)
zum Weinen schön
Das ist wohl der beste Text, den Du je geschrieben hast. So etwas kann passieren … zwischen WOLLEN und FINDEN.
Ein Text wie ein sanfte Melodie, die mir den Geislechner Miche ganz nah gebrarcht hat, als würde ich ihn singen hören. Danke, bin sehr berührt.
Und schon wird mir ganz warm ums Herz. Das schaffst du immer wieder, liebe Gretl – danke und schöne Ostertage dir, ich schicke dir eine Prise Freude und morgen noch ein paar hinterher …
Liebe Gretl,
mir ist so das Herz aufgegangen,wie schön und wertschätzend Du diese Geschichte über den Miche geschrieben hast.Ja,man möchte mit ihm durch die Nacht gehen,den Hut hochschmeissen und die herzergreifenden Lieder schmettern.Ich kann mich Herrn Graugans nur anschließen.
Ich hab mich so gefreut wieder von Dir zu lesen.
Gänsehauttext! Danke!