T.19 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

3 Mutmaßungen über die L.I.E.B.E.

1
„Ein Mann mit gewissen Wunden geht hierher“, kommt mir unterwegs in den Sinn. Ich bleibe kurz stehen, um den Satz zu notieren, und als ich aufschaue, ist da dieser Baumstamm vor mir. In Augenhöhe stecken zwei blaue Heftzwecke in der Rinde, sie sind übrig geblieben von einer fotokopierten Suchmeldung, deren größter Teil abgerissen wurde, bis auf „gesucht wird der kleine Buddy“, das ist alles, was geblieben ist.
Ich reiße die Seite aus meinem Notizbuch, auf der ich „Ein Mann mit gewissen Wunden geht hierher“ geschrieben hab, und befestige sie am Baumstamm, mit den beiden blauen Heftzwecken, überm kleinen Buddy, und gehe weiter.
Einmal dreh ich mich noch kurz um und denke, aha.
Zwei Tage später. Der Satz hängt noch genauso da. Ein kleiner Steckbrief, den ich schon vergessen hatte, umso seltsamer berührt er mich jetzt. Man blickt sich automatisch um, weil man diesen Mann sehen möchte, der das geschrieben hat, das mit den eigenen Wunden. Ich fühle mich bloßgestellt, von mir selbst.
Erst als ich weiter gehe, den Hund an meiner Seite, fange ich mich allmählich. Mit jedem Schritt wird der kleine Zettel richtiger. Was ist Falsches daran, einen Satz aus seinem Kopf rauszuhängen wie ein Fähnchen aus dem Fenster, damit er einen nicht weiter verfolgt. Belästigt. Und wo ist so ein Satz besser aufgehoben als in der Natur, wo der Wind ihn jederzeit mitnehmen kann, nach Hause.
Das hat irgendwie mit Liebe zu tun.

2
Aus ihrer Kindheit hat Sanne ein schweres Knödeltrauma davongetragen, sozusagen. Ihre geliebte Großmutter Soest, die immer so lecker nach Essenmachen und Nivea roch, hat das Essen noch selbst zubereitet, und zwar komplett, sogar den Nudelteig. „Der hing immer über der Stuhllehne wie ein Fensterleder.“ Doch für die kleine Sanne gab es nichts Schöneres, als die knochigen Hände der Oma zu beobachten, wenn sie den Teig für die Kartoffelklöße knetete, die leckersten der Welt.
„Mit solch krummen Fingern konnte man ja nur gut kochen, da steckte der ganze Schmerz des Lebens drin.“
Sie bereitete die Mahlzeiten nicht nach Mengenvorgaben zu, sondern nur nach Gefühl, selbst wenn an hohen Feiertagen die fünfzigköpfige Familie zusammenkam und bekocht werden wollte.
„Fünfzig?“ frag ich erstaunt.
„Keine Ahnung. Aber die haben gefressen wie fuffzig.“
Dass die selbstgemachten Knödel die leckersten der Welt waren, geschenkt. Aber dass die Gräfin es heute einfach nicht schafft, die Klöße so lecker hinzukriegen wie Oma Soest in den späten 60ern, das hat tiefe Spuren bei ihr hinterlassen.
„Oje, wenn Oma mir jetzt zuguckt oben im Himmel, die schlägt wieder die Hände überm Kopf zusammen!“ schimpft Sanne, als sie es sonntags wieder einmal versucht, die Knödel wie Oma hinzukriegen. „Kind! Nun nimm nicht so viel Milch!“

3

Seit dem Frühlingstag 1987, als Sanne mit einem winzigen Knäuel Collie vor der Tür stand, habe ich die verschiedensten Hunde kennengelernt, darunter auch zwei, die immer wieder stiften gingen, die Spaß daran hatten, auf eigene Faust loszuziehen. Es ist ja bei Hunden nicht anders als wie bei Menschen. Entweder man gehört der Liebe oder man gehört der Freiheit.
Lothar war ein kauziger kleiner Mischling, der gelernt hatte, das Verhalten von Menschen zu deuten, die an Fußgängerampeln standen. Gingen sie los, konnte er die Straße ebenfalls überqueren, blieben sie stehen, blieb er auch stehen. Es war tagtäglich dieselbe Strecke, die Lothar zurücklegte, man konnte die Uhr nach ihm stellen. Vom Marmorhandel seines Herrchens am Ufergarten quer durch die Stadt zur Parkanlage am Hippergrund ging es immer brav den Bürgersteig entlang. Lothar war die Bürgersteig-Variante eines Streuners. Unterwegs sammelte er die belegten Brote auf, die Schulkinder achtlos weggeschmissen hatten und verdrückte sie samt der knisternden Butterbrottüten. Ein verfressener kleiner Kerl, aber immer top gebürstet und getrimmt, darauf legte Lothar Wert.
Mandy dagegen, schwarze Labradorhündin, war unberechenbar. Sie wäre gerne ein Lebewesen der Liebe gewesen, treu und anhänglich, doch sie nutzte jede Gelegenheit, um auszubüxen. Und wenn sie Tage später wieder auftauchte, dann in den entlegensten Hofschaften. Als Frau Moll noch Welpe war, gingen wir in Wuppertal-Cronenberg spazieren, und mitten im Wald kam dieser schwarze Hund auf uns zu. Er beschnupperte uns freundlich und trabte eine Weile neben uns her, wie ein gemütliches kleines Pony. An seinem Halsband hing ein Clip.
Ich heiße Mandy, und ich wohne Bertha-von-Suttner-Straße, Solingen.
„Wie..? Das ist doch ganz in der Nähe von uns“, sagte ich.
Also fuhren wir sie heim, die kleine Globetrotterin mit dem unschuldigen naiven Blick, voller Vertrauen an das Gute im Menschen und an die Nachgiebigkeit von Autokarosserien, mit denen man als Hund Bekanntschaft schließen kann.
Von-Suttner Strasse, Solingen. Flachdachbungalows, Familienkutschen vor der Tür, große umzäunte Grundstücke. Auf einem stand ein Mann im weißen Unterhemd, den spritzenden Wasserschlauch in der Hand.
„Ist unsere Dicke wieder ausgebüxt?“ rief er ungerührt und wässerte weiter seinen Rasen, während Mandy schwanzwedelnd durch die offene Küchentür trat, ohne sich noch mal umzudrehen.
Wir haben sie noch mehrfach getroffen, guten Tag gesagt und sie dann ihres Weges ziehen lassen, (einmal im tiefsten Widdert), doch seit zwei, drei Jahren ist sie von der Bildfläche verschwunden. Bis gestern, am späten Sonntagnachmittag, auf den Feldern am Theegarten. Die Sonne versank schon als blutroter Hüpfball am Horizont, als Mandy mit einem Mal vor uns steht, wie aus dem schwanzwedelnden Nichts. Erst erkennen wir sie nicht und denken, es wäre ein alter Hund, der keine Kraft mehr hat und hinter seinem Herrchen zurückgeblieben ist, schließlich ist Sonntag und eine Menge Betrieb auf den Feldern. Doch bald ist weit und breit kein Herrchen und kein Frauchen mehr zu sehen. Nein, der Hund ist allein unterwegs.
„Oder ist das etwa.. Mandy?“ Sanne schaut am Halsband nach. „Klar ist das Mandy. Mann, hat die abgenommen.. Ist die dünn geworden.“
Vielleicht ist sie krank gewesen, oder ihr Herrchen im weißen Unterhemd hat sie im fortgeschrittenen Alter auf Diät gesetzt, wer weiß. Frau Moll schnuppert desinteressiert an ihrem Hintern, Mandy lässt fröhlich den Schwanz kreisen, wie ein Lasso.
„Na, kleine Globetrotterin“, kraule ich ihr den Hals, und Mandy bedankt sich mit einem Blick aus ihrer tiefen und treuen Streunerseele.
„Ich kann doch nichts dafür, dass ich immer unterwegs sein muss“, sagt dieser Blick, bevor sie über die verschneiten Felder verschwindet, in die Richtung, aus der sie gekommen ist.

Tausend Dank an Andreas Glumm, den Dichter

7 Gedanken zu „T.19 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

  1. „Das hat was mit Liebe zu tun“…ja, Andreas, das glaub ich auch…
    unbedingt sogar…und…
    „man gehört entweder der Liebe oder der Freiheit“…Du traust Dich was – ganz schön mutig, diese Anmaßung!
    Was für große Texte, diese schimmernden Miniaturen, ich mag das, wie Du die Wirklichkeit verdichtest…
    Ach, einfach vielen lieben Dank, ich freu mich so über Deine Geschenke!
    Gruß Margarete

  2. Anmaßung? Ich glaub schlicht, dass das schon stimmt, das mit der Liebe und der Freiheit. Ja. Ich hab mich in einem der beiden wieder erkannt, ob’s mir gefällt odere nicht.
    Letztendlich kann jedes Geschöpf nur sein, was es ist, nicht wahr? Danke für diese wunderschöne Geschichte … herzlichen Gruß, die Springerin.

    1. ich gebs ja zu, die „Anmaßung“ ist womöglich deplatziert…und über das mit der Liebe und der Freiheit werd ich nochmal nachdenken…ob nur das eine oder das andere möglich ist…naja, weiß (noch)nicht so recht…
      Lieben Gruß

  3. Ja, weil Liebe natürlich auch Freiheit und Freiheit auch lieblos sein kann. Und alles voll Liebe sein kann, wodurch Freiheit erst wirklich möglich ist. Und ganz ohne Liebe gibt es gar keine Freiheit, weil es dann auch kein Bewusstsein gäbe, höchstens Instinkt. Da wo LIEBE passiert, ist Freiheit auf eine ganz hohe Ebene gehoben. Freiheit … was ist das … ???? Hm …. Letztendlich alles M:U:T:maßung. Mut ist für beides absolut notwendig, nicht wahr? Ganz herzlich gegrüßt und gemutmaßt … :o) :o) :o)

    1. Wow! Genauso mag ich das, meine Liebe!
      Da möcht ich gern mit Dir mal weiterreden…“da wo Liebe passiert, ist Freiheit auf eine ganz hohe Ebene gehoben.“…Ja, ja, ja, genau da gehts lang…gute Gedanken…mag ich sehr!
      Ich grüß Dich auch ganz herzlich und mag waaaaahnsinnig gerne mit dir weitermutmassen!

      P.S. Mut…Jaaaa!…Mut ist erforderlich, das kannst Du laut sagen!

      Servus in die Traumstadt!

  4. „Entweder man gehört der Liebe oder man gehört der Freiheit.“
    Das ist ein Satz für die Ewigkeit, verehrter Glumm, ich danke, kleine Verbeugung obendrauf.
    Aber ja, habe ich auch alles andere gelesen, all das muss einfach etwas mit Liebe zu tun haben.
    Herzliche Grüsse
    Ulli

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