Archiv für den Tag: 30. August 2016

Der Cowboy

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Lieber Wolfi, viele Jahre hat mein Vater immer mal wieder gesagt: „Was wohl aus dem Cowboy geworden ist?“ Aber da warst Du ja schon längst erwachsen und wir hatten uns komplett aus den Augen verloren.

Als wir die Jugendwohngruppe 1988 gegründet haben, kam ein dünnes, blasses Bürschchen daher, blond und blauäugig mit einem Cowboyhut, der wohl ein Stetson sein sollte auf dem Kopf und Cowboystiefel an den Füssen. Wolfi, hast Du die denn jemals ausgezogen? Du bist mit ihnen die Berge hoch gerannt, barfuß in den Stiefeln, und alle paar Meter eine Kippe rauchend, in den Augen diese strahlende Lebenslust, und so eine große Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Du warst der Boss der Truppe, eindeutig, intellektuell, ein wenig verschlagen, immer fast ehrlich, aber nie so ganz, Du weißt schon, was ich meine, nicht wahr? Was innen sich so abspielte in Dir konnte ich nie ganz rauskriegen.

Wenn ich Dienst hatte, saßen wir halbe Nächte herum und hörten alte Country- und Westernsongs aus Deiner Sammlung, was wir gesprochen haben…ich hab es vergessen…aber wenn ich zurückdenke, sehe ich gewaltige Sonnenuntergänge im Kopf und meine, wir wären an einem Lagerfeuer in den Rocky Mountains gesessen, und hätten aus einer verbeulten Pfanne gebackene Bohnen gelöffelt.

Einmal, weißt Du noch, Wolfi, da saßen wir abends daheim, ich nähte Vorhänge und Du hast ferngesehen, es lief „Der Shut“ von Karl May, da kam der Anruf aus dem Jugendzentrum, in dem die übrige Truppe den Abend verbrachte:

„Bitte komm schnell, es fließt Blut, die lassen uns nicht weg hier!“

Weißt du noch Wolfi, Du hast es später tausendmal erzählt: ich mit schwarzem Trainingsanzug, in Hausschuhen und Du neben mir mit klackernden Stiefeln und Stetson am Kopf, stiegen wir vom Pferd und betraten das Haus…eine Gasse bildete sich…wie wir da hineingingen muß mächtig Eindruck hinterlassen haben, wir holten schweigend unsere Leute raus, stiegen auf die Pferde und ritten in die Nacht davon.

Noch vor ein paar Jahren, als wir uns das letzte Mal sahen, da hast Du mir gesagt, wie Du mich in jener Nacht bewundert hättest, ich hätte so eine Macht ausgestrahlt…ach Wolfi, und nicht mal da hab ich Dir sagen können, welch großen Schiß ich hatte damals vor diesen Schlägertypen und wie froh ich war, Deinen „Marshall-Blick“ neben mir zu wissen..

Vor mehreren Jahren, als wir uns trafen, weil einer von Euch sich in der Zelle eines Gefängnisses erhängt hatte und wir zusammenkamen, um an ihn zu denken, da warst Du schon weit über dreissig Jahre alt und hattest Dich endlich geoutet. Du warst damals, mit 17 schon stockschwul, Wolfi, aber erst zwanzig Jahre später, nach unzähligen sinnlosen Gesprächen und gebrochenen Mädchenherzen, hast Du Dich endlich dazu bekannt und es gelebt.

Damals hast Du was zu mir gesagt, was ich nicht mehr vergessen konnte, und jetzt, Wolfi, wo Du tot bist, noch viel weniger. Du hast gesagt: „Du warst meine richtige Mama!“ Ich hab das abgetan, konnte nichts damit anfangen, daß Du so um mich herumscharwenzelt bist, meine Güte, Wolfi, ich war so blöd, das Glitzern in Deinen Augen war nur zum Teil von den Drogen, die Du damals schon eingeworfen hast, da war noch was anderes…so ein Brennen und Sehnen, so ein Kinderblick voller Liebe und Traurigkeit…ich habs nicht erkannt, Wolfi, damals nicht, heute schon.

Ja, Du hattest es ernst gemeint, ich war Deine richtige Mama. Grad ich, die ich immer meine, alles sehen zu können, war so blind…wäre alles anders gekommen, wenn ich Dich in den Arm genommen hätte wie einen kleinen Buben?

Wahrscheinlich nicht. Aber ich werde es nie wissen.

Weißt Du noch, Wolfi, als Ihr Deinen Saloon gebaut habt im ehemaligen Geräteschuppen? Mit Schwingtür natürlich und diesem furchtbaren Kuhkopf mit Loch in der Stirn, der über dem Eingang hing und den alle so cool fanden. Und eine Theke gab es und Feste wurden gefeiert und „Money for Nothing“ lief viel zu laut und wir tanzten alle wie verrückt herum…war das eine schöne Zeit!

Du warst ein Rattenfänger, Wolfi, alle wollten zu Dir, aber Du konntest niemand halten.

Nach der Wohngruppenzeit bekam ich noch hin und wieder Post von Dir aus irgendwelchen Gefängnissen, wegen allen möglichen nicht ganz legalen Tätigkeiten, immer im Sinne der Menschlichkeit oder was Du drunter verstanden hast. Ich gebe zu, ich war froh, nicht alles zu wissen, was Du so getrieben hast. Irgendwie warst Du eine tragische Figur, oder? Rastlos umherirrend, auf der Suche nach was? Du hattest soviel Köpfchen, konntest alle Gespräche anführen, konntest alle beeindrucken mit Charme und Coolness und anscheinend wolltest Du immer ganz knapp an den Rand des Abgrunds…Du, ich mochte dieses gefährlich Verwegene in Dir, aber ich fürchte, ich habe Dich gar nicht gekannt, Wolfi, mein Cowboy.

Jetzt, vor ein paar Tagen haben sie Dich in der großen Stadt gefunden, als sie die Wohnung aufbrachen. Du hast schon tagelang tot dort gelegen. Mühsam flicken wir aus verstreuten Schnippseln Dein Lebensmosaik zusammen und finden rastloses Umherirren, irgendwelchen längst verlorenenTräumen hinterher, viele Drogen, immer knapp am Verhungern, viel rennen und viel betäuben und Suche nach Liebe und eine Einsamkeit, in die Du so eingesperrt warst, daß Du auch nach der Hand Deines einzigen Freundes nicht mehr greifen konntest.

Ich werde natürlich die anderen Eurer Truppe zusammenholen und wir werden viele „Weißtdunochs“ austauschen, alles ist schon so lange her und alle sind über vierzig Jahre alt und die Vergangenheit verblasst schön langsam und wir werden ein wenig traurig sein und an Dich denken.

Ich sitze da und habe dieses Klackern Deiner Stiefel im Ohr, sehe, wie Du in der Sonne sitzt, die Beine auf irgendeinem Tisch und lässig den Hut über das Gesicht ziehst wie in „High Noon“, ich höre Deine Stimme: „kommst Du auf mein Zimmer, ich hab wieder eine neue total geile Scheibe, die musst Du unbedingt hören“…und ich sehe dieses charmante, immer leicht süffisante Lächeln in Deinen Mundwinkeln.

Weißt Du, Wolfi, ich hatte viele Kinder, die habe ich alle ein wenig begleitet und sie dann wieder freigegeben, ins Leben hinaus… Was das wohl ist, dieses Leben?

Es bleibt was in meinem Herzen von Dir, mein Cowboy.

„Du warst meine richtige Mama“, hast Du gesagt,

ja, und Du warst mein richtiges Kind

und jetzt bist Du weggeflogen, für immer

und für immer wird mir ein Schmerz bleiben, wenn ich an Dich denke,

ein Schmerz ganz nah dem Glück, Dich gekannt zu haben..

es ist still geworden in diesem brütend heissen August,

gute Reise, mein Cowboy.