Archiv für den Tag: 2. Januar 2016

9. Rauhnacht…auf Haaresbreite

An irgendeinem Abend stand sie in irgendeiner Kneipe am dunklen Ende des Tresen, da wo die Toilette gleich ums Eck war und wartete vergeblich auf eine Bekannte. Sie trank das zweite Bier und wollte zahlen. Da stand er neben ihr, sagte dem Barkeeper einen Musikwunsch, drehte sich zu ihr um, sah sie an und sagte: “ Mädchen, Du hast so traurige Augen , hör diesen Song, der ist für Dich. Stell Dir vor, es ist Sommer und heiß und Du fährst alleine im Auto die Küste von Amalfi entlang…wenn ich wiederkomme, möchte ich Dich lächeln sehen“, dann verschwand er. Als er wiederkam, lächelte sie, da begann die Haaresbreite.

In den nächsten Wochen traf sie ihn ab und an, er stellte sich eine Weile zu ihr an den Tresen und sie redeten über alles Mögliche, Gott und die Welt, über den Gesang der Wale und Zeitungsmeldungen und über ihr Leben. Sie erzählte ihm von ihren Träumen. Er blieb meist so lange bei ihr stehen, bis seine Freunde nach ihm riefen. Dann sagte er zu ihr : „denk dran, es ist Sommer und heiß in Amalfi“, da musste sie immer lächeln und er sagte, „so will ich Dich haben, Mädchen“ und dann sagte er: „Tschüss, bis bald“.

Meistens begegneten sie sich einmal in der  Woche, wenn er nicht kam, vermisste sie ihn. Nie hatten sie sich berührt, nur ein einziges Mal lagen zufällig ihre Hände so nah beieinander, daß sie sich um Haaresbreite berührt hätten,  und um Haaresbreite hätte sie ihn lieben können.

Irgendwann einmal kam er spät, klopfte kurz mit dem Knöchel auf den Tresen, wie Männer das tun, wenn sie in Eile sind und sagte: „na Mädchen, alles gut bei Dir…jaja, alles gut und bei Dir? Jaja, auch alles bestens, viel Arbeit, also dannmachsgut, ja, Du auch, wir telefonieren mal, jaja“. Als er die Kneipe verließ, drehte er sich nicht mehr um und sie wusste, die Haaresbreite war vorbei.

Als der Barkeeper dieses verdammte Lied spielte, tropfte der See aus ihren Augen und ihr Handrücken wurde nass. Das Taschentuch, das ihr der freundliche Herr neben ihr anbot, lehnte sie ab.

In der Nacht suchte sie in der Mülltonne nach der zerknüllten Italienkarte.