Das Haus
Das Negativ dieses Bildes ist aus einem der alten Bücher herausgefallen … das Haus hat es ausgespuckt.
Das Haus
Das Negativ dieses Bildes ist aus einem der alten Bücher herausgefallen … das Haus hat es ausgespuckt.
Die Musik
Eines Abends im April dieses Jahres, ich ging gerade vom Arbeitseinsatz in einer Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine nachhause, fühlte mich beklemmt und beschwert von dem, was ich in den zurückliegenden Stunden gesehen, gehört und erlebt hatte, drang aus einer kleinen Kneipe, an der mich mein Weg vorbeiführte, Musik hinaus aufs Trottoir.
Die Töne hatten einen Touch von Cajun-Musik: einfach, melodisch und dermaßen rhythmisch, dass es einen sofort reißt und ergreift. Ein junges Paar trat aus der Kneipe, um eine zu rauchen, und während er in seiner Hosentasche nach dem Feuerzeug suchte, begann sie ein bisschen zu Tanzen.
Monate später fällt mir diese Szene wieder ein, an einem aus ganz anderen Gründen beklemmten und beschwerten Abend, und ich wünsche mir plötzlich sehnlichst, Swing oder Boogie oder – das wär‘ am besten! – Lindy Hop zu tanzen, doch die Lebenssituation gibt das gerade nicht her, auch die eigene Gesundheit ist zu wacklig für neuartiges Gewackel. Oder stimmt das vielleicht gar nicht? Sollte man (paradoxe Intervention!) genau jetzt den Lindy hoppen, um die Musik wieder richtig hineinzulassen in den musikentwöhnten, malträtierten Körper?
Es war ein weitgehend musikloses Jahr, eines der musiklosesten wohl, die ich je durchlebte. Das Leben wird stumm ohne Musik, vielleicht sogar stumpf, denn Musik verspricht Dinge, die das Leben nicht hält und bringt sie manchmal auf akustische Weise auf den Punkt, womöglich immer dann, wenn das Leben es gar nicht aushalten würde, von seinem Besitzer selbst auf den Punkt gebracht zu werden (oder umgekehrt).
Some innocent phone calls in the middle of the night
Some purchased existence that says “Hold me tight!”
Some heartbreakin’ feelings, your conscience says “No!”
An avalanche howlin’ and free falling snow
But the answer is far from what you expect
With so few words you can … just explode!
An einem Vormittag im Mai plumpst die Post aufs Parkett des Wohnungsflures. Der befreundete Grazer Musiker schickt sein neues Album, ich freue mich riesig und möchte es so bald wie möglich in Ruhe anhören. Doch das musiklose Frühjahr hat sein Fortbestehen im Sinn, lässt Mann und Hund verunfallen und ich falle mit. Anstatt mich an der Musik festzuhalten, verliere ich den Boden unter den Füßen, wie man so sagt, wann immer man das Gefühl hat, ins Bodenlose zu stürzen.
Bis ich die erste Strophe des ersten Songs auf dem Album zwar nicht in Ruhe, aber immerhin überhaupt einmal anhöre, ist es schließlich Anfang Juni. Ich sitze auf dem Fußboden im Flur und schraube müde einen wackligen Servierwagen zusammen. Bei der Zeile mit der Lawine und dem Schnee fällt mir der Inbusschlüssel fast aus der Hand, an avalanche howlin’ and free falling snow, so ist es, genau so, aber du meine Güte, dabei ist doch längst Sommer, nur ich, ich bin irgendwo im Winter hängengeblieben, fühle mich wie von einer Lawine zu Boden gerissen (und werde erst Monate später fröstelnd begreifen, wieso).
Kleine Katastrophen geben sich fortan die Klinke in die Hand: der Mann hinkt, der Hund hinkt, auch ich hinke alsbald mit allem hinterher, ein Onkel stirbt, ein Grab kostet Geld, nichts zu erben ebenfalls, ein Tumor wächst, ein Tumor wird entfernt, ein Vater ruft, ein Vater will nicht mehr sprechen, ein Virus kommt, ein Virus geht, ein Fenster klemmt, ein Überlauf ist undicht, auf der Windschutzscheibe ein Steinschlag, in der Kniekehle eine Zyste – überall kriecht-fliegt-springt-wächst etwas herbei, das man nicht sehen-hören-fühlen-handhaben will. Aus dem seidenen Faden, an dem ein Leben hängt und aus dem insgeheim sein Gewand gewoben wird, entspinnt sich ein Wirrwarr, es wird zum Knäuel, es verknotet sich unentwirrbar, harrt seiner Zerreißung, wartet auf den erleichternden Schnitt.
Someone said, “She’s far away”
Someone said, “Well, now it’s too late”
How, just tell me, could you do?
Why’d you break her heart in two?
Hold me, hold me, hold me, hold me
Hold me, hold me, hold me now!
Am Ende des Albums angekommen steht der fertige Servierwagen vor mir, nicht nur symbolisch fungiert er als Vehikel einer kleinen Freiheit, sondern serviert uns diese ganz konkret auf seinen vier gummiummantelten Rollen: der Achillessehnenoperierte hat daheim nun ein Transportmittel für alles Not_wendige und ich steige mit dem traumatisierten Hündchen ins Auto und mache mich auf den Weg nach Badgastein und höre bis Salzburg ununterbrochen nur diesen ersten Song und bis zur Ankunft im Gasteiner Tal noch zwei weitere. Drei Songs für dreihundert Kilometer, das ist schon viel, an diesem Sonnensonntag durchs Salzburger Land brausend (und vollbeladen wie ich unterwegs bin, nicht nur mit Bergbekleidung).
Schon immer war ich ein Langsamhörer, vermutlich ist das der Ausgleich für meinen Hang zum Schnellschauen und Raschriechen. Wenn ich richtig hinhören möchte, muss ich mich behutsam hineinhören, und dieses Hineinhören verträgt keine Eile, kein Nebenbei, kein Zwischendrin. Mitten hineinwerfen muss ich mich, in die Musik, in ihren Klang- und Sprachozean, so sie mir denn einen schenkt, durch den ich mich schwimmend bewegen kann, von dem ich mich tragen lassen will, in den ich untertauchen möchte ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ich untergehen könnte.
In einem Lied, das mich bewegt, fließen die beiden Ausdrucksformen, mit denen ich am meisten anfangen kann, ineinander: Worte und Klänge werden eins, die Grenze zwischen der Metrik der Sprache und der der Töne löst sich auf. Diese Verschmelzung erzeugt nicht zwangsläufig Harmonie, sie kann sich gleichfalls in Disharmonien vollziehen, denn Stimmigkeit ist auch im Unstimmigen zuhause, nur das Ohr ist nicht immer offen dafür, Misstönen Zutritt zu gewähren.
Once I had to cross the ocean
Once I had to leave my town
I was strong and I was lonesome
I came pretty far around.
Hold me, hold me, hold me, hold me
Hold me, hold me, hold me now!
Eines Morgens, der Sommer liegt in seinen letzten Atemzügen und die Tage werden bereits wieder kürzer, lichtet sich auf einmal der Schleier, der über dem gesamten bisherigen Jahr hing und es in einen seltsamen Dunst hüllte und gibt den Himmel frei, in einer Klarheit und Konturierung, wie ich ihn lange nicht mehr sah. Später am Tag sitze ich mit einem Freund am Lieblingsweiher und erzähle ihm von all den Kondensstreifen und Kumuluswolken, die ich in den vergangenen Monaten zwar gesehen, aber nicht begriffen hatte, weil Himmelsbilder ja Kunstwerke sind und Kunst nicht zum Begreifen da ist, sondern zum Betrachten und schon als Kind lernt man, dass Kondensstreifen sich auflösen und Wolken vorüberziehen.
Als ich alles erzählt habe, stürzt er ein, der Himmel, und begräbt mich in oder unter sich, es vergehen erneut Wochen und Monate, bis ich aus dem Trümmerhaufen ex_plodiere und wieder an der Oberfläche erscheine, mich ganz aus dem Erdreich emporziehen möchte am eigenen Schopfe und dabei leider ins Leere greife, aber klar, das Haar braucht Licht, um zu wachsen, also bin ich so kurzgeschoren wie an jenem Einsturztage, an dem es noch Sommer war und nun, da ich wieder aufgetaucht bin, ist es dunkel geworden da draußen, dunkel und so kalt.
Now ain’t there no one exciting tonight
An uncertain future is shuffling ahead
The big blow-out is right on its way
The ruins of stability are easy to see
But the answer is far from what you expect
With so few words you can … just explode!
Resonieren, Räsonieren, Sinnieren, überall stecken sie drin, diese Nieren, an die es ging und geht. Die Dialyse grad erst begonnen, ein Generalreinigungsprozess, alles muss raus und zur Reinigung gebracht werden, um sie nicht selbst waschen zu müssen, diese Schmutzwäsche.
Aber dialysis bedeutet auch Auflösung, ein Ausverkauf des beschädigten Interieurs, neues Mobiliar muss her, die Innenräume so kahl und zugleich zum Bersten voll, so dass gar nichts Platz hätte hier drinnen. Außer Musik, die hallt jetzt besser als je zuvor.
Reste der Resilienz zusammensuchen: wo bin ich geblieben? wo gelandet? wohin weiter? (gibt’s ein wo? ist alles hin? wie geht’s weiter?)
Aus den Boxen ertönt die Musik meines Jahres: Some silhouettes rushing, there is no place to stay.
[Englische Texte aus den Songs „Explode“ und „Hold Me, Hold Me“ von Matthias Forenbacher, deutsche Umrahmung von Kraulquappe]
Heimat ist eine äußerst fragile Angelegenheit.
Bild:
Ulli Gau
Bild:
Margarete Helminger
Bild:
Kraulquappe
Das Kind läuft hinaus, um zu sehen, was hinter diesem fremden Haus ist. Da gibt es diese Stiege, sie führt weit hinauf und oben geht es auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Schneeflocken tanzen im Schweben, das Kind tanzt mit, dreht sich und pflückt sie vom Himmel wie silberne Blumen. Es läuft durch den frischen Schnee weiter und weiter, da hängt eine Schaukel an einem Baum … weit hinauf, bis dahin, wo die Schneeflocken herkommen … der Baum schüttelt sich und das Kind wird nass und es fängt an zu frieren. Von weit her läuft es auf das fremde Haus zu und durch eine Türe hinein. Ein Gang, lang und dunkel, aus einem Türspalt fließt ein kleiner Lichtschein dem Kind vor die Füße, was ist wohl hinter der Türe? Ein leises Stimmchen ruft: komm doch … drinnen ist ein Christbaum, so groß, wie ihn das Kind noch nie gesehen hat, er ist mit Silber übergossen, das funkelt im Schein der Kerzen, aber es ist doch noch nicht Weihnachten, denkt das Kind, war denn hier schon das Christkind? Alles ist geheimnisvoll in diesem Zimmer, lange weiße Vorhänge, bis zum Boden, ein Bett irgendwo in diesem großen Raum, ein Saal in einem Märchenschloß … ein Mädchen, nur wenig älter als das Kind rutscht aus dem Bett. Es hat ein langes Nachthemd an, oder ist es ein Prinzessinnengewand, und kommt näher. Das Kind will die Hand nicht nehmen, die sich ihm entgegenstreckt, sie ist so weiß wie Porzellan, auch das Gesicht ist ganz bleich. Das Mädchen sagt etwas mit ganz leiser Stimme, es atmet schwer und seine Lippen sind so blau. Im Raum riecht es komisch, das Kind möchte verschwinden, da geht die Türe ganz auf, ein Mann kommt herein und trägt das Mädchen zum Bett, du darfst doch nicht aufstehen, dein Herz ist zu schwach. Wir warten auf die Operation sagt er. Das Kind schreit laut: Nicht einsperren, du darfst sie nicht einsperren, sonst stirbt sie! Es schreit ganz laut, aber niemand hört es, denn es sagt nichts.
Die Eltern schimpfen, wo warst du denn schon wieder, ständig bist du wie vom Erdboden verschluckt, du darfst nicht immer weglaufen.
Als ich mit dem Auto an dieser Kreuzung stehe, irgendwann kurz vor Weihnachten, da schaltet die Ampel auf grün, ich sehe die tanzenden Schneeflocken und möchte ihnen folgen, irgendwohin in die Dunkelheit, einen Umweg ins Nirgendwo. Hinter mir hupt einer, und während ich noch kurz zögere, rauscht ein großer Wagen bei rot über die Kreuzung. Ich fahre los mit Herzklopfen und weine ein wenig vor Schreck, aber dann überflutet mich diese Lust, einfach mich treiben zu lassen ohne Orientierung, bei Schneefall und Nebel mich aufzulösen im Tanz des Universums … heimliche Wege gehen, die sonst nur die Sterne kennen.
Daheim steht Kater Herbert an der Türe und möchte raus. Gehst auch strawanzen, sage ich, aber da ist er schon weg, verschwunden ums rechte Hauseck herum und von der Nacht verschluckt.
Die Stadt
Stadtkinder spielen andere Spiele
Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Kein Hund, keine Katze, kein Huhn, kein Hahn, keine Kuh, kein Schwein.
Plattenwege und Innenhöfe, viele Kinder, großer Sandkasten, Rutsche, Klettergerüst und Schaukel. Hier spielte sich das Leben ab.
Manchmal riefen der nahe Wald, der Bahndamm, die Straßenbahnendstation, die Berge und der Kanal, die Fahrradtouren durch die Felder, hin zum nächsten Schwimmbad.
Ich hatte keine Angst. Nur wenige Autos, ein paar skurrile Typen, die jede=r kannte.
Ein Kiez ist auch nur ein Dorf.
Hier kannte Jede Jeden, Frau Milchgeschäft und ihre Tochter, den Schutzmann an der Ecke, die Eierfrau und natürlich die Uralte mit der winzigsten Eisdiele der Welt.
Überhaupt, man kannte sich, man grüßte, man kaufte bei denen, die man kannte und manchmal tratschten die Mütter auf dem Boden beim Wäscheversorgen. Man lieh sich ein Ei oder ein Tässchen Mehl, hütete gegenseitig die Kinder und ließ es gut sein.
Doch, ich hatte Angst. Im Keller wohnte der Buhmann. Im Keller waren die Kartoffeln und das Eingemachte, mein Fahrrad.
Blöde Erwachsene!
Zwanzig Jahre später, in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez, war es auf den ersten Blick nicht viel anders. Es fühlte sich heimatlich an. Selbst die Amsel sang am Morgen und am Abend in den Höfen.
Die Welt war schneller geworden, lauter, enger, fremder, wütender. Die Häuser höher, die Autos mehr und ihre Fahrer=innen rücksichtsloser. So manches Mal fürchtete ich um meine Kinder.
Ein Buhmann wohnte nicht im Haus.
Die Metropolen der Welt wachsen in den Himmel, fressen Land.
Die Metropolen der Welt sind keine sicheren Orte mehr.
Die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder.
In den Städten der Welt steht kein Stuhl mehr vor der Tür.
In die Städte der Welt kehrt keine Ruhe mehr ein.
In den Städten der Welt gibt es schon bald keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.
Über den Metropolen der Welt leuchten keine Sterne mehr.
In den Metropolen der Welt finden sich noch Oasen.
Unter den Metropolen der Welt rattern die Bahnen.
Kunst und Kultur spielen in den Städten. Zeitgeist auch. Zu welchem Preis?
Warum denke ich die ganze Zeit, wenn ich an Stadt denke, an die Straßenkinder Brasiliens? Freiwild. Aber nicht nur in Brasilien.
Und ich denke an die nächtlichen Lager unter Brücken, in Parks, im Kaufhauseingang. Freiwild – auch sie. Und all diese Schergen, die mit eisernen Besen kehren. Nach unten treten geht immer noch ein Stückchen tiefer.
Ich denke an biergesättigte Kneipenböden in frühen Morgenstunden, an Kippen, die darin schwimmen, an Nachtschwärmer und Überbleibsel, an:
„All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?“
Text:
Ulli Gau
Die Freundschaft.
Oder: Der Dekalog der Freundschaft Versuch, ein Geländer zu errichten, an das Befreundete oder solche, die es werden wollen, sich vielleicht halten können.
Anhalten:
Freihalten:
Zusammenhalten:
Festhalten:
Innehalten:
Hochhalten:
Raushalten:
Dichthalten:
Aushalten:
Durchhalten:
Text:
Kraulquappe
Der Föhn
Bild:
Margarete Helminger