# 37 Manifest

So vieles schon gewesen, Gedanke und Körper, Blut und Gedärm, Flügel und Schuppe, Schnabel und Maul.

Ein Lied im Abendwind, eine Woge im Ozean, ein lautes und ein leises Wort. Eine Hand auf einem Kinderkopf und auf einem Totenschäel. Ein Pfad im Gebirge und ein Weg durch das Moor.

Ein Flüstern und Schreien, ein Männliches und Weibliches, eine schillernde Seifenblase und ein Speer aus Eisen. Ein Adler und ein Molch, ein Hin und Wegfliegen und ein Gespräch mit einem Wurm. Eine Höhle voll Erz für die Schubkarren der Zwerge.

Ganz wenig und ganz viel, ganz jung und ganz alt und weich und hart und ein kleines Birkenblatt in der Morgensonne, ein Glitzern auf dem Schnee im Mondenlicht. Die Silberspur der Schnecken.

Eine leuchtende Welt, vom Großen Geheimnis in das schwarze Nichts geträumt, hat sich in mir manifestiert und ist Stein geworden.

In meinen Achselhöhlen wachsen die Kristalle, Eis in meinen Höhlen und in meinen Adern fließt das Blut der Zeit. Ich werde immer da sein und in meinen Träumen spreche ich mit Füchsen und Wölfen und manchmal mit Menschen. Ich bin, was ich bin, was ich war und was ich sein werde. Nichts geht verloren, ich liege ruhig und trotzdem bewege ich mich ständig und ändere meine Gestalt. Nichts ist wie es scheint, auch das Gegenteil nicht.

Alles ist.

 

 

und da ist die Kraulquappe unterwegs…

# 36 Schrift der Steine …

Nach Schnee und Eis und bitterer Kälte kam der Regen und jetzt bläst ein viel zu warmer Sturmwind übers Land. Ein Föhnsturm, der die Wolken zusammenschiebt und sie in dramatischer Choreographie über den Himmel treibt. Durch das alte Haus läuft ein Zittern und Beben, die Geister verziehen sich in die dunklen Winkel, unter die Balken, zwischen die Spalten, in die Ritzen und halten sich aneinander fest, um nicht davon zu wehen, als ich das Fenster kurz aufmache. Der Brief, handgeschrieben von einem freundlichen Menschen, über den ich mich sehr gefreut habe, kann gerade noch beschwert werden, bevor er davon segelt. Ich stehe vollkommen neben mir, bin verlangsamt und kann keinen klaren Gedanken fassen. Dieser Föhn jetzt im Januar macht das, was er immer macht: er dreht das Innere nach außen und bringt alles durcheinander. Sogar ein einzelnes Schneeglöckerl steht plötzlich voll aufgeblüht da unterm Birnbaum, etwas zerzaust, wie einer anderen Welt entstiegen und verirrt auf dem Weg. In der überlaufenden Regentonne schwimmt noch ein Teil der dicken Eisplatte, auf der sich manchmal Vögel zum Trinken niederlassen.

Den Findling werde ich jetzt erstmal nicht mehr besuchen, denn er liegt mitten in einem Acker, der nun mit Wasser so vollgesogen ist, daß ich schon nach ein paar Metern einsinke und ich mich nur mehr mühsam mit schweren Erdklumpen an den Schuhen vorwärts bewegen kann.

Auf die Frage, was ich denn da suche, bei so einem Stein, der sich nur als Felsplatte aus dem Boden hebt und an dem doch gar nichts Besonderes ist, sage ich: Nichts. Ich suche nichts, es zieht mich einfach hin. Es  hat mich immer schon zu Steinen hingezogen und ich frage auch jeden Stein, ob er damit einverstanden ist, daß ich ihn aufhebe und mitnehme. Und meistens sagt mir dann mein Gefühl, ob ich eine Art Erlaubnis bekomme oder nicht. Oft gibt es gar kein Gefühl dafür, dann lasse ich ihn liegen.

Gestern bin ich vor ihm gestanden und er sah wieder anders aus oder ich entdecke immer genauer seine Feinheiten, die Kanten und Rillen, die kugelrunden Löcher und seine Adern. Und je nach Lichteinfall scheint er die Form zu verändern. Und ich würde es nicht wagen, ihn zu betreten, auch wenn das Eis restlos weggeschmolzen wäre. Ich habe großen Respekt vor diesem Steinwesen. An einer bestimmten Stelle leuchteten im Hintergrund die Steinberge der Alpen und vor mir strahlte dieses helle Gestein des Findlings und seine Form ähnelte der Silhouette der Berge. Und seine steinerne Mimik … wie oben so unten, wie im Großen, so im Kleinen. Was musste passieren, daß dieser Felsbrocken hier gelandet ist. Ihn mit Menschensprache zu fragen, bringt nichts. Aber Steine kommunizieren auch. Die Freundin sagt, Steine sprechen auch, aber gaaaanz langsam, ja, da hat sie Recht. Sie zu verstehen erfordert einen völlig anderen Umgang mit dem Begriff Zeit. Einfach ausgedrückt und doch oft schier undenkbar heißt das: Hingehen, sitzenbleiben und still sein, nichts weiter … ohne Begrenzung.

Ich gehe gerne auf alten Pfaden, auch als Kind schon war das so. Und jetzt im Drachenjahr werde ich der Spur der Hl. Margarete folgen, der ja ein Drache gefolgt ist, zahm wie ein Schoßhündchen. Ganz in der Nähe des Findlings steht diese kleine alte Kirche mitten im Gelände, deren Entstehungsgeschichte sich im Dunkel der Zeit verliert. Am Altar diese wunderschöne Frau, lose hält sie ein goldenes Band, daran führt sie den riesigen Drachen, sie lächeln beide. Vor dem Eingang fand man im Boden versunken einen römischen Grenzstein, unerklärlich, wie er dahin gekommen ist.

 

Roger Caillois: Die Schrift der Steine:

„Die Steine sind alt:sie gehen dem Leben, dem Menschen voraus…
Es scheint mir alsdann keine Genauigkeit in der erdachten Wissenschaft,
keine Phantasie in dem künstlich erzeugten Delir, keine Harmonie oder
Kühnheit in der eifrig betriebenen Kunst zu geben, zu deren Figuren, Formen,
Zeichnungen die Steine nicht den Keim, die Idee, wenn nicht gar die untrügliche
und feierliche Vollendung liefern.“

Eigentlich sind wir doch steinreich, sage ich. Ja, das sind wir. Und Du bist auf Deine ganz spezielle Art eine Lebenskünstlerin, sagt Herr Graugans.

Und diese Spur führt zur Kraulquappe

# 35 Pfad der Tiere

Unser Kater Herbert ist jetzt 14 Jahre alt, ein gutes Alter für einen so absoluten Freigänger. Er mag nicht mehr rausgehen, sondern verdöst und verschläft an einem warmen Plätzchen den Winter. Ob er im Frühling wieder jagen geht, ist ungewiß, auch, ob er den Frühling überhaupt noch erleben wird. Solange er atmet, lebt er und wenn es Zeit ist zu gehen, dann wird er sterben. Er ist ein Einzelgänger, jemand hat mal gesagt, er sei ein „Solitär“. Es reicht ihm der Kontakt zu zwei Menschen, jeglichem weiteren Kontakt weicht er aus. Er  hat in seiner Weisheit erkannt, daß es bei uns nötig ist, zu sprechen, weil wir dann seine Bedürfnisse besser erkennen. Und so hat er mit verschiedenen Tönen eine Art Kommunikationshilfe entwickelt, die wir zumindest teilweise verstehen können. Mit anderen Katzen unterhält er sich, wenn überhaupt, komplett nonverbal, da gibt es unzählige Austauschmöglichkeiten, die sich menschlicher Vorstellungskraft nicht erschließen. Und da wir also darauf nicht wie gewünscht reagieren, mußte er sich Übersetzungshilfen ausdenken. Er tut das, was er für richtig hält, nur manchmal muß ich ihn zwingen zum Tieraztbesuch. Das mag er nicht und regt sich furchtbar auf, zittert und schreit kläglich. Ich vermeide diese Besuche, so lang es geht und ich sein Leiden ertragen kann. Wenn ich sehr aufmerksam bin, und gut zuhöre, dann kann ich erfahren, wie das geht mit dem Leben und dem Sterben und er sagt mir, wie wenig wir darüber wissen und wie einfach es doch ist: irgendwann mag man nicht mehr soviel jagen, man rollt sich hinter dem Ofen zusammen, schnurrt, bis man einschläft, dann isst man ein wenig und schläft wieder und so weiter. Alles geht seinen Gang, nichts bleibt stehen. Er nimmt alles so, wie es kommt und manchmal schaut er mich lange an mit sehr alten und wissenden Augen und dann spüre ich, daß er Recht hat und wir noch viel lernen können auf unserem Weg.

Ich habe für die nächsten Monate eine „Karte der Kraft“ gezogen und um die spirituelle Begleitung eines Tieres gebeten und so kam der Wal , um mir mit seiner Medizin Beistand und Ratgeber zu sein und mich zu lehren, meiner Bestimmung näher zu kommen. Er fordert mich auf, mich an uralte Erinnerungen anzuschließen und die Gesänge derer anzuhören, die die ursprüngliche Sprache sprechen. Und er hilft mir dabei, die Geschichte meiner Seele zu verfolgen und mich mit ihm, der die Geschichten von uns allen in sich trägt, zu verständigen…

Ih lese wieder in dem Buch „Karten der Kraft“ von Jamie Sams, einer Medizinfrau aus dem Wolf Clan der Seneca – Teaching Lodge und David Carson, Choktaw, erschienen 1988. Dort heißt es, daß in längst vergangenen Zeiten Menschen, die Führung und Einweihung brauchten, zu den Ältesten gehen konnten. Das waren drei alte Männer und drei alte Frauen, sie saßen am Feuer und hatten Rat und gaben Hilfestellung und wenn man sie verließ, dann war man gestärkt und fühlte sich ganz.

Heute ist alles anders, die Alten werden in Altersheimen verwahrt und wir leben in einer Zeit, in der wir von Natur und Magie abgeschnitten sind. Ob die Karten der Kraft mit dem Pfad der Tiere die Weisheit der Alten übernehmen können, muß jeder selber entscheiden, mir sind sie sehr nahe und ich höre sehr gerne auf den Rat der Tiere, die hier zu mir sprechen und mir helfen, meine Medizin zu finden.

Jamie Sams widmet dieses Buch ihrer geliebten Großmutter Twylah, „Ya-we-node“ : Sie, deren Stimme auf dem Wind reitet. Und da fällt mir meine eigene Großmutter ein, die mich in ihre Liebe eingewickelt hat wie in eine warme Decke und die mir das uralte Lied gesungen hat, dessen Text ich zum Teil vergessen hab, aber die Töne sind in meinen Ohren und im Herzen geblieben.

Großmutter Franziska, Du lehrtest mich Deinen Gesang, sei gegrüßt.

Bei meinen Recherchen über dieses Buch und seinen Einweihungsweg erfahre ich, daß Jamie Sams vor ein paar Jahren gestorben ist. Und ich stoße auf ein Buch, das sie mit ihrer Großmutter zusammen geschrieben hat: „Die Ratsfeuer der Sieben Welten – eine indianische Schöpfungsgeschichte“ , erzählt von Twylah Nitsch, Älteste der Seneca Indianer und Hüterin des Steingeheimnisses und ihrer Enkelin Jamie Sams. Es geht darin um die Steine. Steine, die so alt sind wie die Welten. Meine Güte, wie ich mich freue auf dieses Buch!

„Alle Dinge haben ihre vollkommene Zeit und ihren vollkommenen Ort im Leben.“

„Das Medizinrad ist Leben, Leben nach dem Tode, Wiedergeburt und die ehrfürchtige Haltung gegenüber jedem einzelnen Schritt auf diesem Weg.“

„Da nāho! Wi:yo:h!“
(Es ist gesagt! Es ist gut!)

So sei es.

 

Und da ist die liebe Kraulquappe zu finden!

 

# 34 Lichtspiele

Zu meinem vorherigen Text kommentiert Gerhard:  „warme Worte“! Das freut mich. Ja, warme Worte verschenke ich gerne und bekomme sie auch gerne geschenkt. Es ist kalt derzeit, und das nicht nur, weil der Januar so ist, wie er sein soll! Und wahrscheinlich trage ich auch deshalb dieses Buch immer mit mir herum, es ist klein, hat nur 168 Seiten und ist ganz leicht in der Tasche. Als es vor Monaten im Briefkasten lag, kam ich grad von der Arbeit herein und stand in schlammbespritzten Gummistiefeln im Hausgang und konnte nicht aufhören zu lesen: „Herzschlagkino, 77 Filme fürs Leben“, von Andreas Pflüger. Als ich bereits auf der ersten Seite einen neuen Lieblingssatz fand, und A. Pflüger sofort fragte, ob er mir erlaubt, ihn und womöglich noch weitere Lieblingssätze zu zitieren, sagte er sofort zu und schien sich zu freuen. Dieser erste Satz allein sagt schon aus, warum ich ins Kino gehe: „Wenn der Vorhang aufgeht, will ich überwältigt werden, vom Sound, der Musik, von Bildern zu groß für die Leinwand.“

Als ich voreilig fragte, wußte ich noch nicht, daß dieses kleine Büchlein fast ausschließlich aus Lieblingssätzen besteht und daß ich sicher keine Rezension schreiben will, weil ich auch keine lesen mag. Auch Film- oder sonstige Kritisiererei mag ich nicht.

Auf Facebook ist mir immer mal wieder einer aufgefallen, der so ganz anders über Filme geschrieben hat. So, wie der viel zu früh gestorbene Michael Althen, dessen Texte über Filme, die er mochte, ich geliebt habe; las ich die Texte dieses Andreas Pflüger. Ich wusste  damals zu meiner Schande überhaupt nicht, daß er ein begnadeter Drehbuchautor ist und längst bekannt und berühmt für seine spannenden extrem scharfen Politthriller. Meine Güte, wie peinlich, grade hat er großen Erfolg mit dem neuesten Buch: „Wie Sterben geht“. Aber hier ist die Rede von diesem kleinen Büchlein, das parallel dazu erschienen ist, und das außer der Tatsache, daß es exzellent geschrieben ist, nur wenig von den beschriebenen Filmen, dafür aber viel, sehr viel preisgibt über die inneren Notwendigkeiten, sie anzuschauen … immer und immer wieder anzuschauen. Und auf knapp bemessenem Platz mit wohl dosierten Sätzen gibt er nicht nur das, was für ihn die Essenz der Filme ist, preis, sondern erzählt von Freundschaft, Sehnsucht, Liebe, Einsamkeit, Enttäuschung, Begierde und über die unendliche Lust, die Ewigkeit will. Und über die Besessenheit, „die Opfer erfordert; was das bedeutet, wissen nur die, die sie besitzen“.

Bei seinen Filmen fürs Leben sind sind welche dabei, die ich auch sehr liebe, manche kenne ich nicht und werde sie auch nie anschauen, und ein paar kommen sicher dazu, die möchte ich auch kennenlernen. Er spricht von jeweils einem Fehler bei „Taxi Driver“ und bei „North by Northwest“, die muß ich selbstverständlich herausfinden bei nächster Gelegenheit.

Er sagt, daß es Filme gibt, die mitten ins Herz treffen, aber man das nicht erklären kann, warum. Und er sagt: „Manche Filme verdrehen dir von der Aufblende an den Kopf. Du verknallst dich, mit Herzklopfen bis zum Hals. Die allerbesten geben dir dieses Gefühl jedes Mal, wenn du sie siehst. Bei anderen wird es dir heiß und kalt, und du verstehst es nicht.“

Und obwohl er Geschichten nicht mag, die ihn ohne Hoffnung lassen, sieht er einen bestimmten Film, da ist er still und „fällt durch die Bilder wie ein Stein“. Und er spricht von Travis Bickle, der die 47. Straße in Manhattan runtergeht, „steif vor Einsamkeit“.

Ich trage dieses Buch mit mir herum, weil ich diese Zärtlichkeit spüre, diese unglaubliche Liebe zum Kino und zu den Geschichten, die beginnen, wenn das Licht ausgeht und der Vorhang auf. Alles, was da drinsteht, und auch das, was sich zwischen den Worten verborgen hat spricht mir aus der Seele. Auch wenn wir ganz unterschiedliche Filme mögen, das spielt keine Rolle, es geht um die Begeisterung und um das Glück, das Herzschlagglück. Dieses Buch gehört unbedingt dazu. Es ist ein leises kleines Meisterwerk.

Mit allem bin ich einverstanden, bis auf eine Bemerkung: daß George Clooney Cary Grant am nächsten kommen sollte, das bestreite ich vehement. Für mich bleibt er und sein Lächeln unerreicht.

Vor ein paar Tagen, es hatte noch nicht geschneit, begaben wir uns wieder auf die Suche nach dem steinernen Findling. Beinahe hätten wir ihn trotz genauer Koordinatenangabe wieder nicht gefunden, da lag auf einmal irgendwo auf dem riesigen Acker eine große gelbe Plane oder irgendeine Papierverpackung.  Und als ich noch dachte, wer denn sowas auf den Acker wirft, rief schon Herr Graugans: Da ist der richtige Punkt. Ja, und da lag er dann, der Stein. Im Hintergrund war dieses Abendrot über den Bergen, das Licht schien überirdisch schön auf diesen Felsklotz im Boden. Sein Gestein ist von roten Adern durchzogen und auf der einen Seite sieht er aus, als läge ein Drachen da, den Kopf zur Seite gedreht. Nein, kein Foto jetzt, die Welt ertrinkt schon genug in Bilderfluten. Eine wundervolle steinerne Begegnung wurde uns geschenkt.

Hinterher waren wir im Kino und sahen „Perfect Days“ , ein Film, den ich sicher noch unzählige Male anschauen werde. Das Glück tropfte Szene für Szene zwei Stunden in mich hinein, löste alle Beschwernisse auf und hätte  nicht doch noch ein gewisses Maß an Schwerkraft meine Füsse am Boden gehalten, dann wäre ich geflogen!

Da treibt sich die Kraulquappe herum

 

#33 Wer suchet…

Die extrem scharfsichtige Sonne scheint durch die offene Balkontüre, leuchtet jeden Winkel aus und zeigt ihn, der auf allen Flächen, in allen Ecken, auf allen Büchern des alten Hauses faul herumliegt. Überdeutlich zeigt er sich bei jedem Schritt, aufgewirbelt und tanzend in den Strahlen der Sonne. Servus, staubiger Bruder, sage ich, ich denk gar nicht dran, dich wegzuwischen, du gehörst dazu, wie die alten Balken und die Löcher im Dach. Der staubige Bruder ist normalerweise ein Schimpfwort, aber ich bin mir sicher, daß es die Bezeichnung auch im Rotwelschen gibt, dieser alten Geheimsprache der Vagabunden, der Fahrenden und der Gauner. Ich forsche seit Jahren um sie herum, vor allem in ihrer Verbindung mit der hiesigen Landessprache, dem bairischen Deutsch. Beide Sprachen sind miteinander verwachsen und bisher hat mir noch niemand glaubwürdig erklären können, welche zuerst da war.

Den staubigen Bruder, sowie jegliche Putz- und Räumarbeit hinter mir lassend, fahre ich heute am Nachmittag einem Hinweis nach, der im Jahresbuch des Heimatvereins steht und mich zu einem riesigen Findling führen soll, der vor einiger Zeit in einer Wiese entdeckt wurde. Über sieben Meter lang soll er sein, es gibt Fotos davon und eine Wegbeschreibung. Der Bauer, auf dessen Wiese er im Boden versunken daliegt, hat ihn ca. einen Meter tief ausgegraben, niemand weiß, wie groß er wirklich ist. Nach der pflichtgemäßen Meldung wurde ihm von der maßgeblich zuständigen Behörde mitgeteilt, daß für Ausgrabung und Erforschung des Steinbrockens kein Geld zur Verfügung stünde und man könne ihn gern wieder zuschütten. Kein Interesse also an diesem riesigen Stein, der von irgendwoher an diesen Ort gerollt war. Ich bin losgefahren und das schon zum zweiten Mal, und habe ihn trotz genauester Herumsucherei nicht gefunden. Das ist nichts Neues, manche Orte, und vor allem Steine verbergen sich und ziehen sich vor allzu intensiver Suche in sich zurück und werden nahezu unsichtbar. Manchen Ort habe ich dann durch Zufall entdeckt, als ich längst aufgegeben hatte. Und dann stellte sich heraus, daß der Ort ganz in der Nähe war und ich nur die Blickrichtung ändern hätte müssen. Das heißt, es hätte genügt, nur zu schauen, ohne den Vorsatz, etwas finden zu müssen. Ich werde es also ihm überlassen, ob er sich finden lassen will, der Findling.

Das alte Jahr haben wir denkbar schön beendet, mit zwei wunderbaren Filmen: „Fata Morgana“  von Werner Herzog und „Dialog mit meinem Gärtner“.

Grad um Mitternacht hörte der Regen auf und wir konnten ein wenig Richtung Salzburg spazieren und zum Himmel schauen. Ich liebe Feuerwerk und kann das große Geschimpfe darüber gar nicht verstehen. Ja, freilich wird viel Geld in die Luft geschossen, ja und? Es wird auch viel Geld versoffen und verraucht oder für sonstwas ausgegeben. Ja, es passiert auch immer was, wenn Menschen mit Raketen herumspielen. Ja, es gibt viel Unglück auf der Welt und es ist schlichtweg einfach nur unvernünftig, für ein paar Minuten ein Vermögen in die Luft zu schießen.  Aber ich liebe es, was Unvernünftiges zu tun und es ist einfach so wunderbar, diesen bunten Sternen zuzusehen, die es vom Himmel regnet. Ein Feuerwerk ist für einen Augenblick pure glitzernde Seligkeit. Es ist so schnell vorbei wie das Leben, nichts bleibt übrig, aber für einen Moment zeigte sich das Glück.

Jetzt haben wir nach dem chinesischen Horoskop das Jahr des Drachen. Der Drachen ist auch mein Zeichen und ich freue mich auf dieses Jahr. Was immer es auch bringen mag, ich möchte es mit Freude durchschreiten und nach Lust und Laune leben. Und ich höre sofort meinen Vater sagen: was wäre, wenn das jeder täte …ja, was wäre dann?

Ich werde das Löwenfeuer in mir schüren und mich vom Drachen begleiten lassen, neue Wege suchen, alte pflegen, Menschen die Hand reichen, über Blödsinn lachen, mir weiterhin nichts sagen lassen, meine eigenen Wege gehen und meine eigenen Gedanken denken … ich bin zuversichtlich – mit dem Drachen an meiner Seite werden wir uns schon irgendwie durchschlagen.

Ihr Lieben da draußen: Bleibt mir hier gewogen, laßt uns weiterhin die Freundlichkeit pflegen miteinander, umeinander und uns weiterhin Geschichten erzählen. Ich wünsche Euch allen ein gutes Jahr, gute Begegnungen, schöne Musik, Arme, in die Ihr Euch hin und wieder fallen lassen könnt und trotz des ganzen Wahnsinns , der uns umgibt, am Morgen aufzustehn und festzustellen, daß uns die Erde immer noch trägt. Alles Liebe für Euch!

 

Hüte dich und bleibe still; fürchte dich nicht, und dein Herz sei unverzagt.
Jesaja 7,4

Die liebe Kraulquappe hat auch sicher schon vor Stunden was geschrieben!

#32 Der Himmel brennt.

Wir fahren ein wenig in die Berge hinein, aber hinter Reichenhall beginnt in Richtung Lofer der Stau, halb Deutschland ist unterwegs im SUV, mit dem Skisarg auf dem Dach, um irgendwo hoffentlich eine mit Kunstschnee bearbeitete Piste zu finden, auf der man hinunter kommt, oder man ist auf der Suche nach den letzten Gletscherflächen, die langsam aber stetig wegtröpfeln. Das Land ist im Wintersportferienfieber und die Touristenströme lassen sich nicht aufhalten, von nichts und niemand. Manchmal habe ich das Gefühl, man würde auch die Hügel runterrutschen, die vom alles aufweichenden Dauerregen nur noch aus Schlammlawinen bestehen. Aber solang noch irgendwo ein paar Bröserl Schnee herumliegen, fährt die eine Hälfte dort hin. Die andere Hälfte steigt schon seit Wochen vor Weihnachten in Fliegern auf und fliegt in die Wüstenländer, um dort mit den anderen an den Pools zu liegen, die mit Wasser befüllt werden, das diese Länder eigentlich gar nicht mehr haben. In den Nächten um Weihnachten sind über dem Salzburger Flughafen die Flieger aufgestiegen wie die Leuchtraketen, einer nach dem anderen nach dem anderen nach dem anderen. Nach wie vor ist das den unzähligen Touristen völlig wurscht, das war immer schon so und wird sich nicht ändern. Alles, wofür man bezahlt hat, darf man konsumieren, die anderen machen es schließlich genau so. Wer da was dagegen sagt, wird nicht mehr gewählt, so einfach ist das. Wo wir auch hinkommen auf unserer Spazierfahrt, quellen die Mülltonnen über. Auf den Wiesen steht das Wasser, das Land ist aufgeweicht vom Dauerregen, davor hat der übermäßige schwere Schnee den Bäumen die Äste abgetrennt oder sie gleich in der Mitte auseinandergerissen, notdürftig sind Zufahrtsstraßen geräumt, aber überall ist das Ausmaß des Unwetters zu sehen. Mit dem Regen kamen heftige Stürme, dann wurde es schlagartig warm … viel zu warm für diese Jahreszeit, sagt der Wetterbericht. Auch unsere Streuobstwiese hat furchtbar gelitten, viel Arbeit wartet. Die alten Bäume haben so viele Jahre Wind und Wetter getrotzt, diesmal haben Schneedruck und Sturm die Kronen abgebrochen und ihre Äste liegen herum oder hängen halb abgerissen herunter. Der alte Zwetschgenbaum ist in der Mitte gespalten. Was für ein Bild des Jammers, die Bäume hört man nicht, sie klagen leise.

Ich fahre gern um diese Zeit übers Land, denn so ohne Schnee sieht man extrem ehrlich das ganze Spektrum an Häßlichkeiten, das man ihm zugefügt hat. Schmerzhaft deutlich steht die Scheußlichkeit der begangenen und gerade neu entstehenden Bausünden in der Gegend herum.

Wir sind dem Touristenstau entkommen, fahren zurück und landen schließlich in einer wunderbaren freundlichen Buchhandlung im Salzburger Bahnhof, dort im Untergeschoß ist die ganze Welt zugange, viele Sprachen sind zu hören, alle kommen an oder reisen weg. Ich mag diese nicht statische Atmosphäre von nicht ganz weg- aber auch noch nicht ganz dasein, alles ist in der Schwebe und nicht festgelegt.  Und welches Glück, es gibt meine österreichische Lieblingszeitung, den „Falter“.

Heimzu fahren wir an den Bergen entlang nach Westen, der untergehenden Sonne entgegen, plötzlich steht der ganze Himmel in Flammen hinter dunkelblauem Gebirge. Dieser Anblick ist von so einer überwältigenden Schönheit, daß mir die Tränen runterlaufen vor Glück, daß ich dies hier Heimat nennen darf.

Auf der Straße liegt ein Stück graubraunes Fell, plattgefahren. Lange Löffelohren stehen kerzengerade in die Höhe. Mehr ist nicht übriggeblieben vom kleinen Feldhasen.

Die Rauhnächte winden sich um meine Füsse wie kleine Schlangen, vor mir liegt die Weihnachtsbotschaft … noch kann ich sie nicht lesen.

Liebe Grüße an die Frau Kraulquappe!

Zur Rauhnacht

Passend zur Rauhnacht fliegt mir ein Gedicht zu und freundlicherweise erlaubt mir der Herausgeber, Wolfgang Schiffer, es hier zu veröffentlichen.

 

Die andere Frau

Du bist nicht allein
wie im Spiegel
außerhalb des Blickfelds
hinter der Tür oder
beim Aufwachen
zeigt sich plötzlich
die andere Frau

die du bist

deren Leben von dir abhängt
und von deinen Träumen

 

Ingibjork Haraldsdōttir
aus: Am Meer und Anderswo
Hrsg. Wolfgang Schiffer

24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 24: Finis

Zu guter Letzt schickt mir die hier mitlesende Freundin per WhatsApp noch ihr Fazit: „Scheitern als Möglichkeit kann ich nur begrüßen. Es ist eine Form des Wachsens, der Emanzipation, einem System zu entkommen.“

Ein Projekt ist zu Ende.  Und wie jedes Mal stehe ich als Intendantin auf meiner Bühne und bedanke mich bei der illustren Gästeschar, die in den letzten Wochen hier das Programm gestaltet hat. Wie immer ist das laut und lange applaudierende Publikum nicht zu hören, wie sollte es anders sein hier an diesem luftigen Ort zwischen Himmel und Erde, und so kann ich nur ganz alleine im Namen der Mitlesenden meinen Dank aussprechen für die großartigen Texte, die hier zum Vortrag kamen. Es ist ein unbeschreiblich bezauberndes Weihnachtsgeschenk für mich: Ich lade ein und Menschen setzen sich hin und schreiben ihre Gedanken auf, um sie mir zu schicken, jede r in ihrer/seiner ganz eigenen Art. Mehr geht nicht. Ich fühle mich sehr reich beschenkt! Habt Dank alle, für den Mut, um Worte zu ringen, sie aus inneren Urgründen hervorzulocken, sie loszulassen und mir anzuvertrauen, damit ich sie in die Welt hinausschicken kann. Starke Texte sind es geworden, ich lese sie mehrmals, denn manches ist versteckt zwischen den Worten und traut sich erst beim öfteren Lesen heraus in seiner strahlenden Erscheinung.

Wie immer nach so einem Projekt würde ich gerne mit Euch allen noch ein wenig beisammen sein und langsam alles ausklingen lassen. Und wie immer auf dieser luftigen Bühne fällt mir dazu das Cafe Weltenall ein, das sich ganz in der schwebenden Nähe auf dem Gütel des Orion befindet … dort tät ich gerne mit Euch ein frisch gezapftes Asteroidbier trinken und anstoßen auf diese wundervolle gemeinsame Arbeit und ein wenig tanzen und mitsingen zur Sphärenmusik von Ullis Hausband…

Aber heute ist Weihnachten und alle wollen nachhause, Kerzen anzünden, was Gutes essen und ein wenig zur Ruhe kommen und so sende ich aus dem sturmgepeitschten Bergland Grüße hinaus, an alle, die mitgemacht haben und ganz bestimmt nicht zuletzt auch an das hochverehrte Publikum, das hier mitgelesen hat, was wären wir denn ohne Euch!

Laßt es Euch gutgehen, was und wie und ob überhaupt Ihr feiert … ein Kerzenlicht in der Nacht ist nie verkehrt. Ich zünd eine Kerze an und stelle sie ins Fenster.

Denen, die alleine sind und nicht wissen wohin mit sich, schicke ich eine Umarmung.

Es ist Weihnachten.

 

24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 23: Silvia Springer

Der Ruf der Graugans ereilte sie in El Paso, an einer Grenze, mitten in der Wüste, diese ein Ort, der wunderschön, aber gnadenlos wie die Natur selbst ist, da sie sich gemäß ihrem Gesetz entfaltet. Beim Schreiben dieser Zeilen kommt der Schreiberin in den Sinn, dass als Teil der Natur der Mensch ebenso gnadenlos sein konnte, nein, naturgemäß sein MUSSTE. Wen die Gnade ereilt, wer selbst Gnade walten lässt, übersteigt die eigene Natur. Ist das der Quantensprung oder der Dimensionswechsel, von dem alle sprechen? Beim Betrachten der Welt schien es ihr, als wäre die Menschheit an sich gescheitert, an dem Mangel ihrer „Gnadenfähigkeit“ – andererseits erlebte sie in derselben Welt Momente der Glückseligkeit, also die Gnade eines Moments der Freude, einer Sinnhaftigkeit, eines Grundes, leben zu WOLLEN.  Es galt also, diese Fähigkeit zu entwickeln, zu fördern, bei sich zu beginnen und vor allem als lebendes Beispiel zu wirken, Veränderung nicht zu fordern, sondern anzunehmen, aufzunehmen, sich selbst dem Transformationsprozess anheimzugeben.

Die Schwingungen, die sie an jenen Orten zwischen Tucson und El Paso spürte, verführten sie zur Zusage an diesem Projekt. Die Kraft des Bodens dort steigt sehr leicht zu Kopf, verleitet zu Selbstüberschätzung.

Ist Selbstüberschätzung womöglich notwendig, um über sich selbst hinauszuwachsen? Wäre die Anfrage in Wien gekommen, hätte sie vermutlich abgelehnt. Als sie wieder nach Wien zurückkehrte, war es dazu zu spät.

Danke, liebe Gretel Graugans, dass ich dabei sein darf bei deinem Projekt. Es hilft nix, besser wird’s nicht mehr, aber das is‘ ja wurscht, gell? Hauptsache, mitmachen, auseinandersetzen, ringen mit Sprache und Anspruch … und erkennen, wie sehr alle(s) miteinander verbunden sind/ist …

***

Sie hatte geschrieben. Und die bewegenden Texte der anderen gelesen. Festgestellt, dass ihr Text da nicht hineinpasste. Wieder einmal. Gescheitert.

Sie passte da nicht hinein, mit ihren Erfahrungen oder dem, was sie nicht erfahren hatte. Oder mit der Art und Weise, wie sie mit ihren Erfahrungen umging, diese verdrängte, beschönigte, benutzte.

Sie musste sich eingestehen: sie befand sich in einer ernsthaften Krise. Sie, die mit sieben Jahren gewusst hatte, dass sie Schriftstellerin sei, hatte nicht ein Buch geschrieben. Nicht eines. (Aber sie hatte nie aufgehört zu schreiben.)

Sie hatte keine eigene Familie gegründet. War in all ihren Beziehungen gescheitert, sogar Freundschaften waren in die Brüche gegangen. Oder vielmehr: sie erkannte, worauf alle ihre Beziehungen jeglicher Art beruhten. Sie waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, da sie auf falschen Prämissen beruhten. (Und doch gab es Menschen, die sie ebenso liebten wie sie diese liebte.)

Alt wie sie war, hatte sie bis zuletzt Liebe und Freundschaft dort gesucht, wo sie nicht zu finden waren und dort abgewehrt, wo man sie ihr entgegengebrachte. (! Siehe oben…)

Eine berufliche Karriere strebte sie zu keiner Zeit an. Wollte nie „leiten“, „anführen“ oder dergleichen. Sie hatte sich nicht „zu Höherem“ berufen gefühlt. (Dabei liebte sie immer den weiten Horizont, die Linie zwischen Himmel und Erde …)

Und nun konnte sie – die vollkommen Gescheiterte – keinen Text über die Freiheit des Scheiterns verfassen, zweifelte grundsätzlich daran, ob sie jemals wieder schreiben würde oder sollte, weil ihr das ewig selbe Muster ihres Lebens banal erschien und sie etwas Neues tun wollte, nicht, weil sie sich abzuheben suchte, sondern … daran glaubte, dass es tatsächlich neue Wege gab.

Was hatte sie zusagen lassen, als die Graugans sie einlud an deren Projekt teilzunehmen? Sie freute sich immer, von ihr zu hören, sie liebte ihre Texte, die Projekte. Einfach so. Sie wusste jedes Mal, wie herausfordernd sie waren. Sie dachte dieses Jahr, nachdem sie grade wieder mal auf dem Boden der Tatsachen zerbrochen war, handelte es sich um eine leichte Übung.

Es war so schwer wie nie, weil sie genau mittendrin steckte. Es gab keinen Abstand, der sie das größere Ganze sehen ließ. Sie klebte an der Leinwand ihres Lebens wie eine zermatschte Mücke auf der Frontscheibe eines schnittigen Cabriolets. Peng!

Dabei war alles nur Emotion.

Also setzte sie sich hin. Atmete. Schloss die Augen. Atmete. Atmete.

Der Schnee fiel (als sie diesen Text begann). Deckte Wien zu (War mittlerweile geschmolzen). Alles wurde still.

Still.

Noch stiller.

Und immer stiller.

Sie hörte das Pochen ihres Herzens, spürte, wie es das Blut durch ihre Adern trieb, ihren Körper in sanfte Schwingung versetzte.

Der springende Punkt. Punkt. Der Punkt, der springt, die Springerin schwingt und springt.

Sie folgte ihm, diesem Rhythmus ihres Herzens, beobachtete wie Ströme in ihr und um sie flossen, sah die Energie mit dem inneren Auge, wie sie pulsierend kreiste und sich verteilte, hinausschoss ins Universum, immer in Bewegung war, ohne Hektik und doch schneller als das Licht, zielsicher, entschlossen (was entschloss sich? wozu? Egal!), ruhig einfach in unendlicher Kreativität sich ergoss. Keine Sekunde Stillstand, gar keine Eile, wie der Komet am Nachthimmel, der sich in Geschwindigkeit verseng(k)te, jedoch für das Menschenauge praktisch unbeweglich wie alle anderen Sterne nur funkelte, sonst nichts.

Dachte ein sterbender Stern ans Scheitern?

War nicht alles im Grunde vergebens?

Mussten nicht alle Menschen geboren werden, um wieder zu sterben, waren sie nicht alle aus demselben Stoff gemacht, nackte Kaiser und Kaiserinnen, dazu verdammt, zu essen, zu trinken, zu verdauen, auszuscheiden, bis sie selbst aufgegessen, aufgesaugt, verdaut, ausgeschieden wurden?

Eine Frage des Standpunkts, nicht wahr? Aber der springende Punkt steht nicht, er landet nur kurz wie auf einem Sprungbrett, um noch höher zu springen …

Sie begann nicht zu lachen, sie lächelte. Alles war in Ordnung, so wie es war. Gescheitert oder nicht, das war völlig bedeutungslos bei so viel Schönheit, die sie bereits erlebt hatte. Einfach nur Teil des Ganzen. Ein atemberaubendes Werk eines Schöpfers, den sie nicht kannte und dessen Geschlecht ihr ziemlich egal war. Wirklich.

Gedanken wie Muster in einem Gewebe reihten sich ein, einfach nur Schall und Rauch, vergangen, noch ehe sie zu Ende gedacht wurden. Körper lösten sich auf. Alles ein ständiges Scheitern, eigentlich, und das tatsächlich und wirklich in einer Freiheit, die kein Mensch je zu denken in der Lage war oder jemals sein würde, nicht, solange er oder sie einfach nur Mensch war, was schon bedeutsam genug war.

Alles und Nichts zugleich, nicht mehr und nicht weniger. Und sie irgendwo mittendrin, weil überall Mittelpunkt und Grenze war. Liebe. Ist alles.

Text: Silvia Springer oder auch die Springerin genannt

24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 22: Andreas Glumm

Cartoonmoment

 

„Nicht zu fassen“, sag ich, als ich nach Hause komme, und reibe meinen Ellbogen. „Ich hab mich wieder voll hingelegt.“

„Wie? Was meinst du?“

„Na, hingelegt. Aufs Maul. Einfach so.“

„Einfach so? Keiner legt sich einfach so aufs Maul. Wo denn?“

„Na, hier. Den Kannenhof runter.“

„Ja aber… Ist das nicht schon mal passiert?“ Da kommt sogar die Gräfin ins Grübeln.

„Ja, schon wieder“, sag ich verärgert. „Richtig langgelegt hab ich mich. Da, wo der kleine Park ist, den Bürgersteig runter.“

Ich hatte richtig Speed drauf, ich ging viel zu schnell, trotz Schneefalls. Ich war in Gedanken. Diese Massen an Schnee, wenn man die Straße runterblickte, überall Schneehaufen und eingeschneite Wagen, wie Möbelstücke. Als betrete man ein riesiges Schneezimmer. Der steile Kannenhof scheint zunehmend eine Art Sonderzone darzustellen: wie wirtschafte ich meinen endgültigen Fall. Nichts macht der Öffentlichkeit dein Scheitern deutlicher als ein Sturz auf offener Straße.

Hinfallen.

Hat aber keiner gesehen, glaub ich.

Scheitern hat viele Facetten. Die Gräfin erzählte von einem Onkel, dessen großes Problem war: in der Öffentlichkeit machte er sich klein, es fehlte ihm an Selbstvertrauen. Wenn er aber die gleichen Leute, mit denen er im Biergarten schüchtern am Glas nippte, zu sich nach Hause einlud, wurde er groß wie ein Basketballstar. Zu verstehen war das Ganze nicht. Er war ja kein Angeber.

Ich hatte einen schnellen Schritt vorgelegt, den ich nicht mehr zurückschrauben konnte. Einmal zu schnell den Berg runter, schon halb im beginnenden Sturz, blieb nur noch der Versuch, den Fall abzufedern.

Dabei gehe ich so gern. Ein Leben ohne Gehen ist für mich nicht vorstellbar. Wie gut es tut, Dinge zu Fuß zu erledigen. Ich glaube fest daran, dass zu Fuß gehen weltweit wiederkommt, auf großer Linie! Auf großem Fuß! Und dann komm ich daher und lege mich auf die Fresse. Gleich mehrmals scheitere ich an der eigenen Schrittfolge.

*

Seit Wochen lag Schnee, der Frost wollte nicht weichen. 2010 war das Weihnachtsfest, als Mutter starb. Wenn andere Leute bei Stress zu schnell Autofahren, bin ich zu schnell auf den Füßen. Ich eilte also den Kannenhof runter, vergaß aber das Blitzeis, das sich über Nacht gebildet hatte und unter dem Schnee lauerte. Der rechte Fuß sauste weg, als wäre ich auf eine verborgene Bananenschale getreten. Für einen winzigen Cartoon-Moment lag ich waagerecht in der Luft, bevor ich lang aufschlug. Mit dem Rücken. Der Hinterkopf titschte zwei Mal auf, Ding-Dong, wie ein Flummi. Zum Glück trug ich eine Wollmütze, die den Aufprall abfederte, zusätzlich zum frisch gefallenen Schnee.

Ich bin ein leidenschaftlicher Fußgänger. Selbst den Bus nehme ich nur, wenn es mich ausnahmsweise in einen anderen Stadtteil verschlägt. Und natürlich bin ich mit dem Hund täglich zwei oder drei Stunden in der Pampa unterwegs. Da steigt schon rein statistisch die Sturzgefahr. Die Hinfall-Wirtschaft. Guck mal der Mann da, Mama. Der ist hingefallen. Macht der das extra?

*

An einem Donnerstag war es wieder so weit. Diesmal nirgends Schnee, Blitzeis auch nicht. Ich stolperte bei Sonnenschein über die eigenen Beine. Nun zähle ich von Natur zu denjenigen, die vorwärts fallen beim Gehen. Als würde ich mit jedem Schritt ein Loch nach vorn in den Tunnel hauen. Man hört praktisch das Brechen von Mauerwerk, ich säble alles nieder, was sich mir in den Weg stellt. Führend ist dabei das linke Bein, mit dem ich meine Energie vorausschicke. Die linke Klebe. Die Machete. Das Gefühlsbein. Der freie, radikale Fuß singt:

Ich geh, fühl und komm um.

Doch den Sturz löst dann der rechte Fuß aus. Donnerstagvormittag, den Kopf voller Gedanken, mal wieder, wie immer, ich kenne es nicht anders, marschiere ich die steile Straße runter. Auf dem Bürgersteig. Bis ich plötzlich aus dem Takt gerate. Wie aus dem Nichts schlägt die Spitze meines linken Schuhs gegen die Hacke des vorauseilenden rechten Schuhs, und ich verliere das Gleichgewicht. Mein Oberkörper verlagert den Schwerpunkt nach vorne, das vorwärts Fallen beschleunigt sich – und das alles in dem vollen Bewusstsein, mich nicht länger auf den Beinen halten zu können. Zwei Meter schaffe ich noch geradeaus – ich gerate auf die unbefahrene Straße, und stürze – mit den Händen voraus. Rollsplitt bohrt sich beim Aufprall in die Handflächen, ich lande auf der rechten Körperseite, ich liege blöd in der Geschichte rum.

Ein Schulmädchen, das zuvor auf der Wupperstrasse gemeinsam mit mir aus dem Bus gestiegen war und gut zwanzig Meter voraus ist, bleibt abrupt stehen und dreht sich um.

„Alles klar?“

Ich warte einen Moment.

„Na ja klar.“

Was soll man sagen.

*

Das Schöne am bergauf gehen ist oben ankommen. Das Schöne am bergab gehen ist das oben gewesen sein.

Alles in allem ist oben am besten.

Text: Andreas Glumm