Erkundungen in die innere Ferne.

Wien. Zwischen den Gräbern liegt staubfeiner Sand, zurückgelassen von den vielen Überschwemmungen … die Ertrunkenen müssen wohl immer wieder ertrinken, bis nichts mehr da ist von ihnen … Von 1840 bis 1940 hat man die Toten, die von der Donau angeschwemmt wurden, hier neben dem Alberner Hafen begraben, am Friedhof der Namenlosen. Nur der kleine Teil ist noch erhalten, den weitaus größeren hat das Wasser wieder mitgenommen, auf dem Rückzug nach unzähligen Überflutungen. Keine Grabsteine, keine Namen, keine Geschichten von den über vierhundert Ertrunkenen. Im kleineren Teil pflegt man die Gräber von 102 Personen. Ein elfjähriger Bub »ertrunken von fremder Hand« … und  da der »Sepperl«, neugeboren und tot in einer Schachtel ans Ufer gespült; Oskar Gettler, dessen Mutter den Freitod gewählt hat, erschießt sich an ihrem Grab. Er liegt in der Reihe neben ihr. Den Streifzügen und »Erkundungen ins Innere einer Stadt« des von mir hochgeschätzten Schriftstellers Gerhard Roth in Buch und Film folgend lasse ich mich treiben. Die nur kurze Zeit für eine große Stadt überlassen wir ihrem Rythmus … sie weitet sich aus im Vergehen. Der Hafen ist samstäglich ruhig, wir gehen zwischen den Gräbern der Ertrunkenen herum, ein paar Vögel pfeifen, sonst ist es still, sehr still. Wir sagen auch nichts, was soll man schon reden, alle, die hier liegen, wären heute längst gestorben und vergessen und doch bewegen mich die Schicksale und greifen mir ans Herz. Was war ihr letzter Gedanke, woran sind sie so sehr gescheitert, daß ihnen nur noch der Freitod als Ausweg geblieben ist? Am Grab der Rosa Majewski stehe ich, ertrunken mit 18 Jahren … wahrscheinlich ein Dienstmädel … eine Magd.

»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!«  (Jesaja 43, 1)

Es ist noch nicht lange her, da hat diese Worte der Pfarrer gesprochen bei der Beerdigung meiner alten Nachbarin. Auch sie hat Rosa geheissen und musste als Magd arbeiten, kaum daß sie stehen konnte, erst beim Bruder am Hof, dann in mehreren Dienststellen, bis sie endlich der Vater ihres ledigen Kindes geheiratet hat. Dann war sie die Herrin auf dem Hof und man sagt, sie hätte ein strenges Regiment geführt, hart und unerbittlich sei sie gewesen. Nur selten ist sie bei uns am Haus vorbeigegangen, auf ihren Stock gestützt und wenn ich draußen war, dann hat sie gesagt: »Deine Rosen hast gut durch den Winter gebracht, es blüht schon wieder alles so schön bei Dir!« Und ein einziges Mal hat sie gesagt: »Glaub mir Grete, ich hab es auch nicht leicht gehabt« … und während sie das sagte, sind ihr zwei Tränen heruntergelaufen, eine aus dem rechten und eine aus dem linken Auge. In den letzten Jahren ist sie alleine in ihrer Küche gesessen. Und am Abend war Licht in ihrer Stube. Jetzt ist es finster. Ich bin ihr nicht nahegestanden. Ich vermisse sie sehr.

»Euer Herz erschrecke nicht …In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen … So will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin …« (Johannes 14, 2)

Im kleinen Leichenkammerl ist durch das Fenster ein Gestell zu sehen, auf dem ein alter Holzsarg steht, da hinein kamen die sterblichen Überreste der Angeschwemmten. Ein besonderer Ort, ringsherum Auenlandschaft, alles noch zu Wien gehörend, aber weder ganz drin in der Stadt noch ganz draussen … eine Art Zwischenwelt. Im Gehölz dahinter noch ein Friedhof der ganz besonderen Art!

Dann noch ein paar Schritte durch den Zentralfriedhof … »und olle seine Toten« … und dann mit Tramway und Bussen kreuz und quer durch die Traumstadt, ohne Programm, nur in Augen schauen, Stimmen hören, ein wenig flanieren, oder besser gesagt, hatschen mit schmerzenden Füssen und im Café am Heumarkt landen und ein Schnitzerl essen, den Menschen beim Leben zuschauen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen, die Friedhofsschwere wegalbern, reden und lachen. Ja, ich kann den Gerhard Roth sehr gut verstehen, wenn ich jemals in diesem oder einem nächsten Leben einen Roman schreiben würde, dann tät ich das nur in einem Wiener Kaffeehaus, speziell in diesem hier am Heumarkt, selbstredend.

»Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.« (Prediger 3, 20)

 

21 Gedanken zu „Erkundungen in die innere Ferne.

  1. Endlich mal wieder ein Lebenszeichen im Blog! Ja, in Wien krallte es dich unweigerlich; dieses morbide Flair. Diese gewesene Hauptstadt zweier untergegangener Reiche. Scheee in dormitten und vawah’lost außie.
    „Warum kommt keiner morgens früh nach Wien und sieht die Huren vor die Stroßenkehra fliehn…“ Ernst Molden Town eben.

    1. Weil es die Huren auf den Straßen nicht mehr gibt, es gibt nur noch den Praterstrich und die Laufhäuser, womit die Kunden ja hoffentlich auskommen werden …

      1. Also, ob es die Huren auf den Straßen wirklich nicht mehr gibt … vielleicht nur in anderer „Verpackung“…aber egal … Wien ist irgendwie nicht nur eine Stadt, sondern ein Zustand ich muß immer wieder hin, ich glaub, das liegt an diversen böhmisch-österreichischen Genen aus der großväterlichen Theaterwelt. In meinem kitschigen Dazugehörigkeitsbewußtsein und dem bayrischen Sprachduktus werde ich natürlich keineswegs beheimatet. Servus, schön, daß Du hierher gefunden hast!

    2. Servus Bludgy, mein Traum ist ja: im Herbst paar Tage lang in Wien und dann Molden, Resetarits, Soyka, Wirth live und in Farbe erleben dürfen! … und das ist nur die Spitze des Eisbergs, da wären noch der Nino aus Wien, Bilderbuch, Granada, Voodoo Jürgens, Wiener Blond und und und…..seufz

  2. Liebe Margarete, das eine ist, dass ich an alten Friedhöfen nicht vorbeikomme, ohne sie zu besuchen, da kann ich sinnieren über so manches Menschenschicksal, zumal die alten Grabsteine oftmals noch Geschichten erzählen, was nun auch fast zur Gänze verloren gegangen ist, aber sie erzählen eben auch von dem Weg, den wir alle einmal gehen und setzen das Leben wieder in ein anderes Licht.
    Dann Wien, ich war dort nur einmal, es war die Abschlussfahrt meiner Realschulzeit, mir gingen damals die Wiener*innen auf die Nerven – lach – ich mochte ihre Art zu sprechen so gar nicht. Mittlerweile kenne ich einige persönlich und das hat das Ganze etwas relativiert. Kaffeehäuser dürfte es wieder mehr geben, solche in denen man versunken über seiner Kladde sitzen kann und schreiben …
    Herzlichen Dank dafür, dass du ns mitgenommen hast.
    Liebe Grüße
    Ulli

    1. Ja, liebe Ulli, das hast Du gut gesagt, „der Weg, den wir alle einmal gehen…“!
      Schön, daß Du mich besucht hast hier, ganz liebe Grüße!

  3. „Ich bin ihr nicht nahegestanden. Ich vermisse sie sehr.“ Wie du diese Bruchlinien des Lebens herausholst aus den trüben Fluten des Alltags, das gefällt mir.

    1. Keineswegs, lieber Zeilentiger, war nur in der falschen Schublade, jetzt ist er wieder da und ich freu mich drüber!

  4. Also, ich hätte ja nichts dagegen, wenn aus dem Roman noch in diesem Leben etwas würde… Danke für diesen berührenden Text – und für die feinen Bilder auch.

    1. Liebe Maren, das wäre das Glück meines Lebens, wenn jetzt auf meine alten Tage ein Roman aus mir herauskriechen täte … viele liebe Grüße an Dich

  5. „Ich bin ihr nicht nahegestanden. Ich vermisse sie sehr.“ Das Vermissen lauert überall, auch dort, wo wir nicht vermuten, daß es uns einmal heimsuchen wird. Liebe Grüße

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.