# 36 Schrift der Steine …

Nach Schnee und Eis und bitterer Kälte kam der Regen und jetzt bläst ein viel zu warmer Sturmwind übers Land. Ein Föhnsturm, der die Wolken zusammenschiebt und sie in dramatischer Choreographie über den Himmel treibt. Durch das alte Haus läuft ein Zittern und Beben, die Geister verziehen sich in die dunklen Winkel, unter die Balken, zwischen die Spalten, in die Ritzen und halten sich aneinander fest, um nicht davon zu wehen, als ich das Fenster kurz aufmache. Der Brief, handgeschrieben von einem freundlichen Menschen, über den ich mich sehr gefreut habe, kann gerade noch beschwert werden, bevor er davon segelt. Ich stehe vollkommen neben mir, bin verlangsamt und kann keinen klaren Gedanken fassen. Dieser Föhn jetzt im Januar macht das, was er immer macht: er dreht das Innere nach außen und bringt alles durcheinander. Sogar ein einzelnes Schneeglöckerl steht plötzlich voll aufgeblüht da unterm Birnbaum, etwas zerzaust, wie einer anderen Welt entstiegen und verirrt auf dem Weg. In der überlaufenden Regentonne schwimmt noch ein Teil der dicken Eisplatte, auf der sich manchmal Vögel zum Trinken niederlassen.

Den Findling werde ich jetzt erstmal nicht mehr besuchen, denn er liegt mitten in einem Acker, der nun mit Wasser so vollgesogen ist, daß ich schon nach ein paar Metern einsinke und ich mich nur mehr mühsam mit schweren Erdklumpen an den Schuhen vorwärts bewegen kann.

Auf die Frage, was ich denn da suche, bei so einem Stein, der sich nur als Felsplatte aus dem Boden hebt und an dem doch gar nichts Besonderes ist, sage ich: Nichts. Ich suche nichts, es zieht mich einfach hin. Es  hat mich immer schon zu Steinen hingezogen und ich frage auch jeden Stein, ob er damit einverstanden ist, daß ich ihn aufhebe und mitnehme. Und meistens sagt mir dann mein Gefühl, ob ich eine Art Erlaubnis bekomme oder nicht. Oft gibt es gar kein Gefühl dafür, dann lasse ich ihn liegen.

Gestern bin ich vor ihm gestanden und er sah wieder anders aus oder ich entdecke immer genauer seine Feinheiten, die Kanten und Rillen, die kugelrunden Löcher und seine Adern. Und je nach Lichteinfall scheint er die Form zu verändern. Und ich würde es nicht wagen, ihn zu betreten, auch wenn das Eis restlos weggeschmolzen wäre. Ich habe großen Respekt vor diesem Steinwesen. An einer bestimmten Stelle leuchteten im Hintergrund die Steinberge der Alpen und vor mir strahlte dieses helle Gestein des Findlings und seine Form ähnelte der Silhouette der Berge. Und seine steinerne Mimik … wie oben so unten, wie im Großen, so im Kleinen. Was musste passieren, daß dieser Felsbrocken hier gelandet ist. Ihn mit Menschensprache zu fragen, bringt nichts. Aber Steine kommunizieren auch. Die Freundin sagt, Steine sprechen auch, aber gaaaanz langsam, ja, da hat sie Recht. Sie zu verstehen erfordert einen völlig anderen Umgang mit dem Begriff Zeit. Einfach ausgedrückt und doch oft schier undenkbar heißt das: Hingehen, sitzenbleiben und still sein, nichts weiter … ohne Begrenzung.

Ich gehe gerne auf alten Pfaden, auch als Kind schon war das so. Und jetzt im Drachenjahr werde ich der Spur der Hl. Margarete folgen, der ja ein Drache gefolgt ist, zahm wie ein Schoßhündchen. Ganz in der Nähe des Findlings steht diese kleine alte Kirche mitten im Gelände, deren Entstehungsgeschichte sich im Dunkel der Zeit verliert. Am Altar diese wunderschöne Frau, lose hält sie ein goldenes Band, daran führt sie den riesigen Drachen, sie lächeln beide. Vor dem Eingang fand man im Boden versunken einen römischen Grenzstein, unerklärlich, wie er dahin gekommen ist.

 

Roger Caillois: Die Schrift der Steine:

„Die Steine sind alt:sie gehen dem Leben, dem Menschen voraus…
Es scheint mir alsdann keine Genauigkeit in der erdachten Wissenschaft,
keine Phantasie in dem künstlich erzeugten Delir, keine Harmonie oder
Kühnheit in der eifrig betriebenen Kunst zu geben, zu deren Figuren, Formen,
Zeichnungen die Steine nicht den Keim, die Idee, wenn nicht gar die untrügliche
und feierliche Vollendung liefern.“

Eigentlich sind wir doch steinreich, sage ich. Ja, das sind wir. Und Du bist auf Deine ganz spezielle Art eine Lebenskünstlerin, sagt Herr Graugans.

Und diese Spur führt zur Kraulquappe

7 Gedanken zu „# 36 Schrift der Steine …

  1. Da hat der Herr Graugans völlig Recht, du bist eine Lebenskünstlerin mit klugen Gedanken und einen ganz besonderen Blick auf die Welt. Schön, dass ich an einigen Gedanken teilhaben darf.
    LG Jutta

  2. Klein war es damals noch, mein mittlerweile großes Kind, vielleicht 8,9 Jahre jung. Einmal hatten wir so ein Grundsatz-Gespräch, über Leben und Tod. Muss wirklich alles sterben, fragt er. Ja, sage ich, alles hat eine Geburt und einen Tod. menschen, Tier, Pflanzen …Steine auch? – klingt es an mein Ohr. Ja, sage ich, auch Steine. Nur für uns kaum fassbar alt werden sie.

    Daheim bei seiner Mutter hat er erzählt, der Papa hat gesagt, Steine leben. Dein Vater spinnt. – war die wenig tiefenphilosophische/naturwissenschaftliche Antwort 🙂 Aber immerhin wurde ihm früh das ewige werden und vergehen klar.

    Danke & Grüße, Reiner

  3. So schön, deine Liebe zu Steinen!
    Ich habe auch einige gesammelt – meist in Herzform. Sie machten auf sich aufmerksam und wollten mitgenommen werden.
    So ein Findling ist nicht nur ein einfacher Stein. So alt und hat viel erlebt. Steine schenken Trost. Ich war einmal bei einem Bildhauer und sah einen sehr großen noch unbearbeiteten Stein. Er blieb mir ganz lange im Gedächtnis. Leider habe ich keinen Platz. Gern hätte ich einen Garten und darin diesen Stein….
    Danke für diese Gedankenanregung und die Erinnerung an viele Steinmomente.

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

  4. Deine Steinliebe kann ich gut nachvollziehen. Du hast das so toll beschrieben, wie sie auf dich wirken, dich auf sie aufmerksam machen. Ab heute werde ich da auch mal genauer in mich hineinspüren. Liebe Grüße aus NRW, Lisa

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.