Anläßlich ihres 95. Geburtstages hatte Elsa all die Möbel ihrer Wohnung restaurieren lassen. Sie kam später ein ums andre Mal auf die Freude des Schreiners und des Sattlers zu sprechen, beide hätten noch nie vergleichbar schöne alte Möbel renovieren dürfen.
Unzählige Sommer hatte sie auf der Atlantikinsel Île de Groix vor der bretonischen Küste verbracht. Sie bewohnte dort, nach der Scheidung alleine, ein niedriges Steinhaus, welches ihr die Eltern vererbt. Zuweilen kam eines der Kinder zu Besuch.
Elsa wußte, was Liebe ist. Sie hatte geliebt, geweint und vergessen.
Während der späten Herbste und Winter pflegte sie in einem Hochhaus der Mailänder Peripherie im 22. Stock zu sitzen, Karten zu legen, zu rauchen und Chansons zu hören.
Sie hatte Musolinis Regiment, den zweiten Weltkrieg erlebt, Hunger und Knappheit der Nachkriegszeit, die Jahrzehnte wachsenden Wohlstands für die große Mehrheit der Bevölkerung. »Heute erscheint mir alles Geschehene«, geruhte sie auszuführen, »als Traum, welcher allmählich verblasse.«
Elsas Sohn wandte sich wiederholt gegen ihre Aussage, das Leben erscheine im Rückblick als die Aneinanderreihung einiger Illusionen. Er gab zu bedenken: »Aber Mama, Kriege sind kein Traum; Musolinis Camicie Nere, die Schwarzhemden, waren kein Traum, Deine Scheidung war kein Traum, Deine Einsamkeit hier im Haus auf der Insel oder im Mailänder Hochhaus – kein Traum.« Sie winkte ab. »Geh mir weg mit diesen Dingen.«
Auf dem Sims draußen vor dem Fenster saß eine Amsel; die hatte keinen Namen, rauchte keine Zigaretten, würde niemals ein Steinhaus bewohnen auf der Île de Groix. Elsa wußte nicht, ob Amseln träumen können; allein, die Vögel waren da, flogen weg, erschienen wieder – unbekümmert um die Menschen, die in ihren Zimmerchen säßen.
Elsa hatte einen Großteil ihrer Zeit auf Erden der Lektüre gewidmet – ohne irgend eine Absicht zu verfolgen; einfach wie ein Ast auf Wassern zu treiben. Virginia Woolf und dem späten Hölderlin galt ihre Aufmerksamkeit im hohen Alter.
Elsa hatte Angst vor altersbedingten Zerrüttungen des Geistes, und vermochte doch wild und honigsüß zu lachen, zu weinen und ausgiebig vom Wein zu trinken, immer dann, wenn irgendjemand in ihrer Gegenwart resigniert die Schultern hängen ließ.
Sie war stets stilvoll gekleidet: Jeans; und mehr als elegant die schwarzen, immerzu schwarzen Rollkragenpullover (die sie auch im hohen Sommer trug); das lange, tief dunkelgraue Haar souverän geflochten.
Draußen die Welt sich unablässig veränderte, die Wetter in schmutzigen, ziegenkotbeschmutzten Mänteln, gleichermaßen jedoch im Brokat des Königs Salomo feierlich vorübergingen – wie die Eisenbahnzüge während ihrer Kindheit (Elsas Elternhaus hatte an der Bahnlinie nach Bologna gestanden); draußen wurden Fabriken gebaut und große Straßen hineingezeichnet in den Staub der Erde, draußen, extra muros, schritten schöne Frauen weinend durch die Straßen, draußen starben Kinder, wurden Menschen gequält, fuhren weiße Schiffe aus den Häfen.
Elsa besaß nie einen Führerschein. Obwohl sie niemals in ein Flugzeug gestiegen, wußte sie die unermeßliche Leichtigkeit zu empfinden des Wolken– und des Vogelflugs. Sie ahnte, daß am Ende eine einzige graue Feldsteinmauer ihr vor Augen stünde.
Elsa dachte, Poesie alleine würde alles überdauern, allen Untergängen widerstehn. Bezeugt wird indes, daß sie mit den Worten starb, sie habe die Tragödie des Lebens nie wirklich begriffen.
Text: Ulrich Fentzloff
Poesie mag eines der wenigen Dinge sein, die überdauern, die Tragödie des Lebens, in das man hineingestellt wird, einfach so, ist ein anderes Ding. Man begrüßt es etwa, wenn man feiner Poesie gewahr wird, da tönt es in einem, sodass die Tragödie vergessen ist für eine Weile.
Es tönt auch in mir. Dieser wunderbare Text …
Vielen Dank für diesen anregenden Text.
Gruss,
Robert