24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 23: Silvia Springer

Der Ruf der Graugans ereilte sie in El Paso, an einer Grenze, mitten in der Wüste, diese ein Ort, der wunderschön, aber gnadenlos wie die Natur selbst ist, da sie sich gemäß ihrem Gesetz entfaltet. Beim Schreiben dieser Zeilen kommt der Schreiberin in den Sinn, dass als Teil der Natur der Mensch ebenso gnadenlos sein konnte, nein, naturgemäß sein MUSSTE. Wen die Gnade ereilt, wer selbst Gnade walten lässt, übersteigt die eigene Natur. Ist das der Quantensprung oder der Dimensionswechsel, von dem alle sprechen? Beim Betrachten der Welt schien es ihr, als wäre die Menschheit an sich gescheitert, an dem Mangel ihrer „Gnadenfähigkeit“ – andererseits erlebte sie in derselben Welt Momente der Glückseligkeit, also die Gnade eines Moments der Freude, einer Sinnhaftigkeit, eines Grundes, leben zu WOLLEN.  Es galt also, diese Fähigkeit zu entwickeln, zu fördern, bei sich zu beginnen und vor allem als lebendes Beispiel zu wirken, Veränderung nicht zu fordern, sondern anzunehmen, aufzunehmen, sich selbst dem Transformationsprozess anheimzugeben.

Die Schwingungen, die sie an jenen Orten zwischen Tucson und El Paso spürte, verführten sie zur Zusage an diesem Projekt. Die Kraft des Bodens dort steigt sehr leicht zu Kopf, verleitet zu Selbstüberschätzung.

Ist Selbstüberschätzung womöglich notwendig, um über sich selbst hinauszuwachsen? Wäre die Anfrage in Wien gekommen, hätte sie vermutlich abgelehnt. Als sie wieder nach Wien zurückkehrte, war es dazu zu spät.

Danke, liebe Gretel Graugans, dass ich dabei sein darf bei deinem Projekt. Es hilft nix, besser wird’s nicht mehr, aber das is‘ ja wurscht, gell? Hauptsache, mitmachen, auseinandersetzen, ringen mit Sprache und Anspruch … und erkennen, wie sehr alle(s) miteinander verbunden sind/ist …

***

Sie hatte geschrieben. Und die bewegenden Texte der anderen gelesen. Festgestellt, dass ihr Text da nicht hineinpasste. Wieder einmal. Gescheitert.

Sie passte da nicht hinein, mit ihren Erfahrungen oder dem, was sie nicht erfahren hatte. Oder mit der Art und Weise, wie sie mit ihren Erfahrungen umging, diese verdrängte, beschönigte, benutzte.

Sie musste sich eingestehen: sie befand sich in einer ernsthaften Krise. Sie, die mit sieben Jahren gewusst hatte, dass sie Schriftstellerin sei, hatte nicht ein Buch geschrieben. Nicht eines. (Aber sie hatte nie aufgehört zu schreiben.)

Sie hatte keine eigene Familie gegründet. War in all ihren Beziehungen gescheitert, sogar Freundschaften waren in die Brüche gegangen. Oder vielmehr: sie erkannte, worauf alle ihre Beziehungen jeglicher Art beruhten. Sie waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, da sie auf falschen Prämissen beruhten. (Und doch gab es Menschen, die sie ebenso liebten wie sie diese liebte.)

Alt wie sie war, hatte sie bis zuletzt Liebe und Freundschaft dort gesucht, wo sie nicht zu finden waren und dort abgewehrt, wo man sie ihr entgegengebrachte. (! Siehe oben…)

Eine berufliche Karriere strebte sie zu keiner Zeit an. Wollte nie „leiten“, „anführen“ oder dergleichen. Sie hatte sich nicht „zu Höherem“ berufen gefühlt. (Dabei liebte sie immer den weiten Horizont, die Linie zwischen Himmel und Erde …)

Und nun konnte sie – die vollkommen Gescheiterte – keinen Text über die Freiheit des Scheiterns verfassen, zweifelte grundsätzlich daran, ob sie jemals wieder schreiben würde oder sollte, weil ihr das ewig selbe Muster ihres Lebens banal erschien und sie etwas Neues tun wollte, nicht, weil sie sich abzuheben suchte, sondern … daran glaubte, dass es tatsächlich neue Wege gab.

Was hatte sie zusagen lassen, als die Graugans sie einlud an deren Projekt teilzunehmen? Sie freute sich immer, von ihr zu hören, sie liebte ihre Texte, die Projekte. Einfach so. Sie wusste jedes Mal, wie herausfordernd sie waren. Sie dachte dieses Jahr, nachdem sie grade wieder mal auf dem Boden der Tatsachen zerbrochen war, handelte es sich um eine leichte Übung.

Es war so schwer wie nie, weil sie genau mittendrin steckte. Es gab keinen Abstand, der sie das größere Ganze sehen ließ. Sie klebte an der Leinwand ihres Lebens wie eine zermatschte Mücke auf der Frontscheibe eines schnittigen Cabriolets. Peng!

Dabei war alles nur Emotion.

Also setzte sie sich hin. Atmete. Schloss die Augen. Atmete. Atmete.

Der Schnee fiel (als sie diesen Text begann). Deckte Wien zu (War mittlerweile geschmolzen). Alles wurde still.

Still.

Noch stiller.

Und immer stiller.

Sie hörte das Pochen ihres Herzens, spürte, wie es das Blut durch ihre Adern trieb, ihren Körper in sanfte Schwingung versetzte.

Der springende Punkt. Punkt. Der Punkt, der springt, die Springerin schwingt und springt.

Sie folgte ihm, diesem Rhythmus ihres Herzens, beobachtete wie Ströme in ihr und um sie flossen, sah die Energie mit dem inneren Auge, wie sie pulsierend kreiste und sich verteilte, hinausschoss ins Universum, immer in Bewegung war, ohne Hektik und doch schneller als das Licht, zielsicher, entschlossen (was entschloss sich? wozu? Egal!), ruhig einfach in unendlicher Kreativität sich ergoss. Keine Sekunde Stillstand, gar keine Eile, wie der Komet am Nachthimmel, der sich in Geschwindigkeit verseng(k)te, jedoch für das Menschenauge praktisch unbeweglich wie alle anderen Sterne nur funkelte, sonst nichts.

Dachte ein sterbender Stern ans Scheitern?

War nicht alles im Grunde vergebens?

Mussten nicht alle Menschen geboren werden, um wieder zu sterben, waren sie nicht alle aus demselben Stoff gemacht, nackte Kaiser und Kaiserinnen, dazu verdammt, zu essen, zu trinken, zu verdauen, auszuscheiden, bis sie selbst aufgegessen, aufgesaugt, verdaut, ausgeschieden wurden?

Eine Frage des Standpunkts, nicht wahr? Aber der springende Punkt steht nicht, er landet nur kurz wie auf einem Sprungbrett, um noch höher zu springen …

Sie begann nicht zu lachen, sie lächelte. Alles war in Ordnung, so wie es war. Gescheitert oder nicht, das war völlig bedeutungslos bei so viel Schönheit, die sie bereits erlebt hatte. Einfach nur Teil des Ganzen. Ein atemberaubendes Werk eines Schöpfers, den sie nicht kannte und dessen Geschlecht ihr ziemlich egal war. Wirklich.

Gedanken wie Muster in einem Gewebe reihten sich ein, einfach nur Schall und Rauch, vergangen, noch ehe sie zu Ende gedacht wurden. Körper lösten sich auf. Alles ein ständiges Scheitern, eigentlich, und das tatsächlich und wirklich in einer Freiheit, die kein Mensch je zu denken in der Lage war oder jemals sein würde, nicht, solange er oder sie einfach nur Mensch war, was schon bedeutsam genug war.

Alles und Nichts zugleich, nicht mehr und nicht weniger. Und sie irgendwo mittendrin, weil überall Mittelpunkt und Grenze war. Liebe. Ist alles.

Text: Silvia Springer oder auch die Springerin genannt

3 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 23: Silvia Springer

  1. Aus der Perspektive eines springenden Punktes dem Scheitern nachzuspüren, hat mir sehr gut gefallen, liebe Silvia, spring weiter so, möchte ich dir sagen – und natürlich auch frohe Weihnachten nach Wien wünschen!

  2. Liebe Silvia, ich wünsche dir auch im nächsten Jahr springende Punkte, dass du fröhlich zwischen den Welten springen mögest. Ja, es ist immer alles da und alles mit mit allem verbunden, es ist am Ende immer die Sichtweise, die bestimmt.
    Ich habe deinen Text sehr gerne gelesen!
    Herzliche Grüße aus dem Norden, seit Weihnachten sogar mit Sonne, Ulli

    1. Dank dir, liebe Ulli, ja, war wieder ein sehr spannendes Projekt, und ja, wäre nett, wenn wir alle im Cafe Weltenall zusammensitzen könnten … wer weiß? Auch dir einen herzlichen Gruß aus dem Wienerwald, grade grau und mau, aber immerhin :)! Wir sind am Leben! Frohe Rauhtage und Nächte, sanfte Landung im Neuen! Silvia

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