24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 22: Andreas Glumm

Cartoonmoment

 

„Nicht zu fassen“, sag ich, als ich nach Hause komme, und reibe meinen Ellbogen. „Ich hab mich wieder voll hingelegt.“

„Wie? Was meinst du?“

„Na, hingelegt. Aufs Maul. Einfach so.“

„Einfach so? Keiner legt sich einfach so aufs Maul. Wo denn?“

„Na, hier. Den Kannenhof runter.“

„Ja aber… Ist das nicht schon mal passiert?“ Da kommt sogar die Gräfin ins Grübeln.

„Ja, schon wieder“, sag ich verärgert. „Richtig langgelegt hab ich mich. Da, wo der kleine Park ist, den Bürgersteig runter.“

Ich hatte richtig Speed drauf, ich ging viel zu schnell, trotz Schneefalls. Ich war in Gedanken. Diese Massen an Schnee, wenn man die Straße runterblickte, überall Schneehaufen und eingeschneite Wagen, wie Möbelstücke. Als betrete man ein riesiges Schneezimmer. Der steile Kannenhof scheint zunehmend eine Art Sonderzone darzustellen: wie wirtschafte ich meinen endgültigen Fall. Nichts macht der Öffentlichkeit dein Scheitern deutlicher als ein Sturz auf offener Straße.

Hinfallen.

Hat aber keiner gesehen, glaub ich.

Scheitern hat viele Facetten. Die Gräfin erzählte von einem Onkel, dessen großes Problem war: in der Öffentlichkeit machte er sich klein, es fehlte ihm an Selbstvertrauen. Wenn er aber die gleichen Leute, mit denen er im Biergarten schüchtern am Glas nippte, zu sich nach Hause einlud, wurde er groß wie ein Basketballstar. Zu verstehen war das Ganze nicht. Er war ja kein Angeber.

Ich hatte einen schnellen Schritt vorgelegt, den ich nicht mehr zurückschrauben konnte. Einmal zu schnell den Berg runter, schon halb im beginnenden Sturz, blieb nur noch der Versuch, den Fall abzufedern.

Dabei gehe ich so gern. Ein Leben ohne Gehen ist für mich nicht vorstellbar. Wie gut es tut, Dinge zu Fuß zu erledigen. Ich glaube fest daran, dass zu Fuß gehen weltweit wiederkommt, auf großer Linie! Auf großem Fuß! Und dann komm ich daher und lege mich auf die Fresse. Gleich mehrmals scheitere ich an der eigenen Schrittfolge.

*

Seit Wochen lag Schnee, der Frost wollte nicht weichen. 2010 war das Weihnachtsfest, als Mutter starb. Wenn andere Leute bei Stress zu schnell Autofahren, bin ich zu schnell auf den Füßen. Ich eilte also den Kannenhof runter, vergaß aber das Blitzeis, das sich über Nacht gebildet hatte und unter dem Schnee lauerte. Der rechte Fuß sauste weg, als wäre ich auf eine verborgene Bananenschale getreten. Für einen winzigen Cartoon-Moment lag ich waagerecht in der Luft, bevor ich lang aufschlug. Mit dem Rücken. Der Hinterkopf titschte zwei Mal auf, Ding-Dong, wie ein Flummi. Zum Glück trug ich eine Wollmütze, die den Aufprall abfederte, zusätzlich zum frisch gefallenen Schnee.

Ich bin ein leidenschaftlicher Fußgänger. Selbst den Bus nehme ich nur, wenn es mich ausnahmsweise in einen anderen Stadtteil verschlägt. Und natürlich bin ich mit dem Hund täglich zwei oder drei Stunden in der Pampa unterwegs. Da steigt schon rein statistisch die Sturzgefahr. Die Hinfall-Wirtschaft. Guck mal der Mann da, Mama. Der ist hingefallen. Macht der das extra?

*

An einem Donnerstag war es wieder so weit. Diesmal nirgends Schnee, Blitzeis auch nicht. Ich stolperte bei Sonnenschein über die eigenen Beine. Nun zähle ich von Natur zu denjenigen, die vorwärts fallen beim Gehen. Als würde ich mit jedem Schritt ein Loch nach vorn in den Tunnel hauen. Man hört praktisch das Brechen von Mauerwerk, ich säble alles nieder, was sich mir in den Weg stellt. Führend ist dabei das linke Bein, mit dem ich meine Energie vorausschicke. Die linke Klebe. Die Machete. Das Gefühlsbein. Der freie, radikale Fuß singt:

Ich geh, fühl und komm um.

Doch den Sturz löst dann der rechte Fuß aus. Donnerstagvormittag, den Kopf voller Gedanken, mal wieder, wie immer, ich kenne es nicht anders, marschiere ich die steile Straße runter. Auf dem Bürgersteig. Bis ich plötzlich aus dem Takt gerate. Wie aus dem Nichts schlägt die Spitze meines linken Schuhs gegen die Hacke des vorauseilenden rechten Schuhs, und ich verliere das Gleichgewicht. Mein Oberkörper verlagert den Schwerpunkt nach vorne, das vorwärts Fallen beschleunigt sich – und das alles in dem vollen Bewusstsein, mich nicht länger auf den Beinen halten zu können. Zwei Meter schaffe ich noch geradeaus – ich gerate auf die unbefahrene Straße, und stürze – mit den Händen voraus. Rollsplitt bohrt sich beim Aufprall in die Handflächen, ich lande auf der rechten Körperseite, ich liege blöd in der Geschichte rum.

Ein Schulmädchen, das zuvor auf der Wupperstrasse gemeinsam mit mir aus dem Bus gestiegen war und gut zwanzig Meter voraus ist, bleibt abrupt stehen und dreht sich um.

„Alles klar?“

Ich warte einen Moment.

„Na ja klar.“

Was soll man sagen.

*

Das Schöne am bergauf gehen ist oben ankommen. Das Schöne am bergab gehen ist das oben gewesen sein.

Alles in allem ist oben am besten.

Text: Andreas Glumm

7 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 22: Andreas Glumm

  1. Gefallen bin ich mal blöd wegen eines zu hohen gehsteigs. Blöd war nur, dass ich mir beim aufstützen meine von Schuppenflechte versehrte Hand etwas aufriss.Ich lies mir die Hand versehen, also war nichts weiter.
    Gottseidank habe ich diese Schuppenflechte nicht mehr.

  2. Niemand kann einen Fall so plastisch beschreiben, wie Glumm, davon bin ich felsenfest überzeugt!
    Außerdem ist es ein gutes Beispiel, weil es ja nüscht hilft, mensch kann ja nicht da liegen bleiben, er muss wieder aufstehen und weitergehen …
    Herzliche Grüße, Ulli

    1. Es gibt tatsächlich nicht viel dümmeres im Leben als sich in aller Öffentlichkeit und offensichtlich grundlos aufs Maul zu legen. Ich meine: hinfallen weil man zu schnell auf den Füßen ist, kann doch keiner ernst nehmen.

      Und dann liegt man da.

  3. Ja, das Fallen vor den Augen anderer ist auch mir vertraut, ich hab deinen Text sehr gern gelesen.
    Am allermeisten hallen deine letzten drei Sätze in mir nach, als Bergsteigerin in jeder Hinsicht kann ich ihnen zutiefst zustimmen.

  4. Um über sich hinauszuwachsen, hilft Selbstüberschätzung nicht die Bohne. Im Gegenteil. Es produziert schon nach kurzer Zeit nur Enttäuschung. Guter Text. Hat mich einsteigen und zuhören lassen und ein paar Meilen mitgenommen, bis El Paso.

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