24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 17: Michael Helminger

Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen,
die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit
Futuristisches Manifest

.»warum du alleine schneller ans ziel kommst« / »5 tipps, wie du eine stunde pro tag dazugewinnst, ohne mehr zu arbeiten« / »wie selbständige beim power napping kraft tanken können« / »wie du deine ziele nächsten monat statt nächstes jahr erreichst« /
»wie wir überzeugungen überdenken und positives stärken« / »selbst-coaching-tools für den unternehmerischen alltag« / »raus aus der schockstarre, rein ins tun« / »vom aufschieber zum umsetzer und dranbleiber« / »persönliche energiewende, die funktioniert – so werden deine akkus nie leer.«

er/sie denkt. an optimierung. für eine neue zukunft. welche? brechen mit tradition. mit gestern. ja. immer vorwärts schauen. immer schneller. ungebundenheit ist schönheit. ungebundenheit ist ziel. unverbindlichkeit ist ergebnis. jede und jeder hat es in der hand. high tech ist poesie. alte formen zerbrechen. orte zerbrechen. neue formen entstehen. sind da. sind realität. geben orientierung? orte schon. aber das ist altes denken vor den friedhöfen der kultur.
»wenn du glaubst, du hättest die dinge unter kontrolle, fährst du nicht schnell genug.«

er/sie denkt. an revolution. in kunst. in leben. in technik. die futuristen damals wollten das. liebten das neue, das dynamische, das kühne. sie verachten das alte, das statische, das feige. das bewahrende. es gibt etwas in mir, das daran anknüpfen kann.
er/sie denkt. an den sieg. ist (selbst)mangement, nicht hans im glück. sucht innovation, sucht disruption, sucht geschwindigkeit – echo des futurismus? vielleicht. doch vorsicht! futurismus umarmt krieg, gewalt als reinigungsmittel der welt – gefährliche liebe! (selbst)management will mehr. sucht auch nachhaltigkeit, sucht ethik, sucht menschlichkeit. will alles sein. erfolg und weltanschauung. und religion. aber die liebe zur innovation, zum bruch mit dem alten? lebt weiter im herzen des siegs – ein kind des futurismus? ganz sicher ein nicht allzu entfernter verwandter.

er/sie denkt. an zukunft. an überleben. notwendige anpassung. digitalisierung als werkzeug. für effizienz. für ressourcenschonung. futurismus liebt maschinen, geschwindigkeit, fortschritt – digitalisierung ist kind dieser liebe. daten fließen, informationen rasen, welt schrumpft. und ich? verstehe, aber begreife nicht. erfühle nicht.

er/sie denkt. an transformation. ökologische transformation mahnt. erinnert an grenzen. an verantwortung. digitale transformation hebt grenzen auf. zwischen kollaps und revolution. ist auch inflation der möglichkeiten. ermöglicht neue formen des kreierens, des arbeitens, des lebens. aber ich? verzweifle an der wachsenden komplexität. zu viel ist gleichzeitig. zu viel ist im fluss. zu wenig fixiert.

er/sie denkt. an die eigene freiheit. meine ist, ich kann entscheidungen treffen. ich kann ja sagen. ich kann nein sagen. immer. zu allem. zu jedem. jede wahl birgt konsequenzen. jede wahl birgt möglichkeiten. unsichtbar. unvorhersehbar. ist ein doppelschneidiges schwert – befreit und bindet zugleich. das glas kann halbvoll oder halbleer sein. meine entscheidung. entscheidungen – wie steine im wasser, wellen erzeugend, weitreichend. angst lauert – vor dem falschen schritt, vor dem irrtum, vor dem bedauern. das ist der preis für meine entscheidungsfreiheit. freiheit zur entscheidung ist kampf – zwischen mut und zweifel, zwischen herz und verstand. leben ohne wahl? unvorstellbar – denn wählen heißt leben, heißt sein, heißt werden.

er/sie denkt. an die vermeidung. um zu verhindern. die falsche entscheidung. die immerwährend drohende katastrophe. wenn sie näher kommt, ist angst. angst macht panik. panik macht klein. klein macht verlust. darum nur abschätzbares. überblickbares. risiko ist unwägbarkeit. lässt sich nicht messen. entzieht sich. der planung. der berechnung. ist dimensionslos. unfassbar.

er/sie denkt. an das scheitern. als schatten. folgt jedem schritt. lauert hinter jeder entscheidung. scheitern ist das echo einer wahl. falsch abgebogen. in dunkle gassen des vielleicht. wenn es passiert, ist stille. dann lärm. innerer lärm. vorwürfe hallen wider. selbstvorwürfe. scheitern macht klein. lässt zweifeln. an sich selbst. am urteilsvermögen. es ist menschlich, zu irren. doch schmerzhaft, zu akzeptieren. er/sie blickt zurück. sucht den moment. die eine sekunde, den einen gedanken. hätte anders wählen können. aber der weg war verschleiert. risiko war da, konnte nicht vermieden werden – unsichtbar, wie nebel im morgengrauen. entscheidungen sind sprünge ins unbekannte – manchmal landet man weich, manchmal hart. scheitern ist lehrmeister – grausam, aber gerecht.
und nein, ein scheitern ist nicht der auftakt für den nächsten sieg. scheitern ist immer total. immer. ohne wenn und aber. sonst ist es kein scheitern, sondern nur zäsur. nur zum hindurchgehen. nicht zum verweilen. ohne sinn. brutal. das ist scheitern. der preis der eigenen entscheidung. der preis der freiheit.

er/sie denkt. weiter – an freiheit, an entscheidungen, an das scheitern, an das eigene schicksal, an den eigenen lebensweg, an den tod, an den rückblick auf das eigene leben. an das große ré­su­mé.

Herr Graugans

6 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 17: Michael Helminger

    1. Danke – vorhin war sie geschlossen und auch unter den letzten zwei anderen Beiträgen …

      Und jetzt muss ich erst nochmal überlegen, was ich eigentlich schreiben wollte – mei … mein Hirn! Im Alter wird das Scheitern größer 😉
      Bis gleich …

      1. „Scheitern ist immer total.“ Du hast es ausgesprochen, endlich einer. Scheitern ist nicht so ein „Naja, bin ich halt gescheitert und weiter geht’s.“ Scheitern ist mit viel Schmerz und Infragestellungen verbunden, manche tot geglaubten Gespenster kommen wieder aus den Ecken gekrochen, wenn …

        Futurismus ist wohl die einzige Kunstrichtung, die mir Angst machte, als ich sie kennenlernte, auch wenn ich ihren Ansatz erst einmal gut fand. Aber ich muss nicht alles zerstören, um Neues kreieren zu können.

        Danke für deinen komplexen Text, der mir lieber wäre am Tisch miteinander zu diskutieren.

        Herzlichst, Ulli

        1. Es gibt zur Zeit viele Podcasts und Blogs im Business-Bereich, die das Scheitern zum Thema machen. Was mir dabei auffällt: Jedes Scheitern wird hier als Grundlage für den nächsten »Sieg« dargestellt. Was ist aber mit den Menschen, die einfach nur scheitern, ohne hinterher zu siegen???

    2. Nachdem die Kommentarfunktion längst wieder funktioniert, was man ihres Namens wegen ja schon frühmorgens anzunehmen geneigt war (sich dann aber als vorübergehender Irrtum erwies), möchte ich nun auch mein Senfkörnchen dazugeben.
      Ein ganz großartiger Text: schon beim Intro wurde mir übel ob des Optimierungswahns, der aus all diesen Titeln quillt, und doch verkauft sie sich gut, die ganze Ratgeberliteratur, Horden von Führungskräften, die heute sicher anders heißen, wahrscheinlich mindestens CEO, improven ihre key competences in Seminaren mit ebensolchen Titeln, man muss ja immerzu an sich arbeiten, um weiterzukommen auf der Straße der Sieger und um sich zu wappnen gegen die incidents & accidents on the road, mehr als eine kleine Panne, die man dann freilich als Chance oder challenge begreift und so elegant als möglich managt, ist nicht drin, anschließend verkauft man’s nach außen als weitere glänzende Perle an der eigenen Erfolgskette, was aber drinnen entsteht, ist nicht zwingend Fülle durch all das gelingende Geglänze, sondern es tun sich manchmal Lücken auf, eine seltsame Leere, eine, die weg muss, wie ja alles weg muss, was absturzgefährdend sein könnte, die große Angst vor den Kratern auf der eigenen Spur oder das, was man für sie hielt, das Scheitern lotst einen auf die Nebenpfade, wo einem das Gestrüpp um die Ohren schnalzt, gibt’s dafür eigentlich keine Ratgeberliteratur oder Coaches, muss man sich da etwa selbst an der Hand nehmen und durchschlagen?
      Dies und anderes dachte ich, als ich frühmorgens Ihren Beitrag zum Scheitern las und dann scheiterte ich an der Kommentarhinterlassungsmöglichkeit.
      (Die einzige Kleinigkeit, die ich nicht teile, ist das „nur“ vor der Zäsur, zwar ist sie nicht so total wie das Scheitern, aber ein Einschnitt eben doch.)
      Herzliche Grüße ins Bergland!

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