24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 16: Zeilentiger

Lange hieß es Heißtheke und ich fragte immer wieder mal, ob sie nicht eine Heißhungertheke daraus machen wollten. Ich hatte eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass sie es wirklich umsetzen würden. So freut es mich aber.

Nicht, dass ich es jetzt eigentlich noch beachten würde, was denken Sie, und es wissen auch nicht viele davon. Sie sind ja der einzige – von vielleicht zwei, drei Freunden abgesehen –, dem ich dass aus Jux erzählt habe. Diese anonyme Verewigung, von der Heinrich Heine gesprochen hat, das ist doch das höchste Ziel.

Was sind dagegen schon meine Übersetzungen von Baudelaire oder Mandelstam beispielsweise. Und meine eigenen Bücher, die sind sowieso schon vergessen, auch wenn ich selbst ja noch lebe, irgendwie. Nein, mehr als diese Heißhungertheke kann ich nicht erwarten, literarisch zumindest.

Wenn man hier von literarisch sprechen kann.

*

Um 14.59 Uhr ruckelte der Zug, ein Knall wie beim Herausspringen einer Sicherung ertönte, dann waren die Lichter aus und die Belüftung stumm und der Zug rollte aus, bis er zum Stehen kam. Draußen fiel Schnee. Eine Kreuzung deutete einen Vorort an. Der Zug stand auf offener Strecke und auch ich stand im Nirgendwo eines Gangstückes von Hier nach Dort, eingekeilt zwischen anderen Menschen und wartete gemeinsam mit Hunderten anderer Menschen, auf eine Information, eine Erklärung, auf das Wunder einer Durchsage durch tote Lautsprecher. Die Luft wurde schlechter. In Hitze ersticken wäre hier wahrscheinlicher, als durch eindringende Winterkälte zu erfrieren, dachte ich mir.

Polizisten, mit angespannter Miene und barhäuptig im Schneetreiben, waren die ersten, die den Bahndamm entlangliefen. Später kamen routinierte Feuerwehrleute, ein Krankenwagen, eine Seelsorgerin in violetter Jacke – dünn, spitznäsig und bebrillt, als wollte sie ein Klischee bestätigen, von dem ich nicht weiß, wie es sich geformt hat – , ein weiterer Einsatzwagen der Feuerwehr, der den Zufahrtsweg jenseits der Bahndammhecke absperrte, endlich ein Leichenwagen und sogar die Presse. Mit uns, den Menschen im Zug, sprach niemand, während draußen Routinen abliefen für einen Fall, den sich niemand wünscht und mit dem trotzdem täglich Menschen konfrontiert werden.

Wir waren vergessen, fast jedenfalls. Einmal zwängte sich eine Zugbegleiterin durch die Waggons, sie öffnete hie und da ein schmales Kippfenster und rettete uns vor dem Ersticken, später kam denselben Weg ein sehr, sehr ruhiger, sehr höflicher Mann im Sakko und mit einen Funkknopf im Ohr, der mit seinem Sicherheitsschlüssel all jene Fenster öffnete, die die Zugbegleitern übergangen war. Irgendwann kam er zurück, blieb bei einer Mutter mit einem schreienden Kind stehen, er war ganz Ruhe und Präsenz, dann nahm er Konktat mit dem Kind auf, nahm es schließlich auf den Arm. Das Kind wurde ruhig wie der Mann und er stand einfach da und trug es und gelegentlich wanderte seine Aufmerksamkeit den Waggon entlang, wie um sicherzugehen, dass alles unter Kontrolle sei. Niemand fragte den Mann, wer er war, auch ich nicht, aber ich nehme an, er war ein „Springer“, ein Problemlöser, der mit heißen Reifen herangeschossen kam, um dann mit dem Puls eines Meditationslehrers durch die Tür des Zugführers eingeschleust wurde, um alles unter Kontrolle zu halten.

Drei Stunden nach dem Notstopp war unsere Evakuierung abgeschlossen, der Ersatzzug rollte los, der ruhige Mann war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Niemand in unserem Waggon hatte geschrieen in den drei Stunden, kaum jemand geflucht. Mit den Menschen, die neben mir gewartet hatten, fühlte ich mich verbunden, fühlte mich mit mir verbunden, fühlte mich als Teil der lebendigen Welt. Manchmal bringt der Tod Leben hervor.

Text: Zeilentiger

2 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 16: Zeilentiger

  1. Der ruhige Mann wird sehr eindringlich beschrieben und hat so gar nichts mit dem Thema „Scheitern“ zu tun, wohl aber die Geschehnisse außerhalb des Zuges…

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