„Alles seit je. Nie was anderes. Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Samuel Beckett
Anfang Oktober.
Frau Graugans erzählt mir von der Idee, die sie für ihre diesjährigen „Mutmaßungen“ während der Adventszeit hat: ums Scheitern soll es gehen.
Tolles Thema, entgegne ich, und denke an das Beckett-Zitat, dieses „besser scheitern“ sollte mal hinterfragt werden: gibt es da wirklich graduelle Abstufungen (gut scheitern, besser scheitern, am besten scheitern)?
Ich bin dabei, sage ich zu ihr, und ergänze, wenn es denn mal soweit sei, möge sie mir den 12.12. reservieren, das wäre ein passendes Datum aus meiner persönlichen Scheiterbiographie.
Anfang November.
Zwei von der WordPresse, mit denen ich befreundet bin, erzählen mir, dass sie von Frau Graugans eine Einladung zum 24 T.-Projekt bekommen haben. Öha, denke ich, jetzt wird‘s also konkret. Und es wird Zeit, dass ich mir Gedanken mache. Ich denke so vor mich hin und komme nicht besonders weit. Lediglich das „besser scheitern“ erschließt sich mir dank fortgesetzter Beckett-Lektüre.
In voller Länge liest sich das nämlich so:
„Alles seit je. Nie was anderes. Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern. Erst der Körper. Nein. Erst der Ort. Erst beides. Jetzt das eine. Jetzt das andere. Übel von dem einen das andere versuchen. Übel von dem zurück von dem Übel. Und so weiter. Irgendwie weiter. Bis man keine Lust mehr hat, weder aufs eine noch aufs andere. Beides in die Höhe werfen. Wo auch nichts ist. Auch davon übel werden. Wieder hochwerfen, dann zurück. Wieder der Körper. Wo keiner ist. Wieder den Ort. Wo keiner ist. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Wieder besser. Oder besser schlimmer. Wieder schlimmer scheitern. Noch schlimmer. Endgültig übel sein. Alles endgültig hinschmeißen. Endgültig gehen. Wo endgültig nichts mehr ist. Gutes und so.“
Habe verstanden: mit „besser scheitern“ ist gerade nicht dieser Allgemeinplatz „Alles wird gut, man muss sich nur genug anstrengen“ oder der Schmarrn mit dem Schmied und dem Glück gemeint.
Jetzt samma beinand, Samuel.
Mitte November.
Ich frage Frau Graugans, ob sie mir auch eine Einladung schicken könnte. Spinnst jetzt? meint sie, es sei doch eh längst abgemacht, dass ich bei dem Projekt mitmachen würde.
Mir geht’s nur um die genaue Formulierung des Themas, erkläre ich mich.
Die nennt sie mir dann nochmal: Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns.
Ah ja.
Anfang von Ende November.
Längst tief drin in der Thematik, nur nicht auf die gewünschte Weise: ich bin dabei, bereits an der Überschrift zu scheitern. Unter „Die Freiheit des Scheiterns“ verstehe ich spontan jene Freiheit, die aus einem Scheitern resultiert. Kenne ich das, habe ich das erlebt, dass ich auf die Nase gefallen bin und mir das ein Gefühl von Freiheit beschert hat? Oder ist vielmehr die Freiheit zu(m) Scheitern gemeint, also dass ich mir jederzeit gestatten darf, Schiffbruch zu erleiden und damit kein genereller Untergang (der Sache, der Scheiternden, des Schicksalsdampfers) besiegelt ist?
Mitte von Ende November.
Immer noch nicht gescheiter, aber auch noch nicht gewillt, schon gescheitert zu sein, bevor es überhaupt losgeht. Der kleine Korinthenkacker in mir, der nach Präzision lechzt und das Kleinkind, das keine Themaverfehlung schreiben will, fragen bei Frau Graugans nach und bekommen die Antwort, die sie verdient haben: das Thema sollen wir doch einfach so auffassen, wie wir es verstehen wollen.
Wir können es kaum fassen, diese Freiheit.
Ende von Ende November.
Ein ehemaliger Kollege, mit dem ich viel Zeit in sehr harmonischer Bürozimmer-WG verbrachte, stirbt überraschend mit Anfang 60 und genau drei Wochen, bevor er in Frührente gehen wollte. Es verschlägt mir die Sprache, keiner der Sätze, die ich seiner Familie schreibe, gelingt mir zu meiner Zufriedenheit, schließlich schicke ich den gescheiterten Versuch eines Kondolenzbriefes ab.
Ich bitte Frau Graugans um einen späteren Abgabetermin meiner Mutmaßungen über die Freiheit des und/oder zum Scheitern/s.
Anfang Dezember.
Immerhin: während einer Einkehr bei einer ausgedehnten Schneewanderung ein paar Fragmente und Fragen im Notizbuch festgehalten, der Blick aufs viele Weiß war wohl erhellend.
Das Antonym zu Scheitern ist Gelingen: damit bin ich schon mal weg von dem Sieger-Verlierer-Zeugs, das ist gut so.
Bloß kein Anti-Leistungsgesellschaft-Aufsatz, dazu schreib ich irgendwann lieber ein ganzes Buch, Titel „Ekzema labora“ oder sowas in der Art.
Gelingen ist was anderes als Siegen, Scheitern was anderes als Verlieren.
Das Scheitern hat einen schlechten Ruf, es wird negativ bewertet und oft dramatisiert, aber warum eigentlich? Weil es vermeintlich offenbart, dass sich da jemand nicht genug abgestrampelt oder bemüht hat, zu untalentiert, unvermögend, ungeschickt war, kurz: es einfach nicht gepackt hat?
Spiegelt das Scheitern nicht eher die eigenen überzogenen Erwartungen oder die vermutete Bewertung des Selbst durch die Augen anderer wider?
Trägt Scheitern nicht wesentlich zur persönlichen Entwicklung bei, weil es einem die Einsicht schenkt, dass Versuch und Irrtum unerlässlich sind für echten Fortschritt?
Und wie spielt in all das nun die Freiheit mit rein? Entsteht Freiheit nicht überhaupt erst durch die Möglichkeit des Scheiterns?
Wenn alles vorgezeichnet wäre, also jedem immer alles gelänge, gäbe es ja keinerlei Entscheidungsfreiheit mehr, der freie Wille wäre redundant in einer Welt des ewigen Gelingens, denn das Subjekt würde sonderbar sattelfest durch seine festgelegte Schicksalsspur surfen, ohne Gegenwind und ohne Kentern und folglich ohne sich je aus den Untiefen der Lebensgewässer am eigenen Schopf mühsam wieder emporziehen zu müssen. Wo kein Absturz geschehen kann, da braucht auch kein Aufstehen gelernt werden, und nach einer Odyssee ungestörten und öden Dahingleitens rauscht das satte, saturierte, sonnenverwöhnte Subjekt, das nie einen Schatten sah, schon gar nicht den eigenen, eines Tages gegen seine Sargkante und fährt nur äußerlich etwas gealtert, aber ansonsten unbeschadet in die Grube.
Scheitern trainiert das Immunsystem der Psyche: versemmelte Prüfungen, verpatzte Chancen, vergurkte Vorhaben, versäumte Treffer/Treffen, verfehlte Ziele, verpfuschte Beziehungen, verlorene Lieben.
Versagt zu haben ist Gabe und Aufgabe zugleich: den Alptraum aushalten, bis das Aufwachen kommt, danach wird etwas ander(e)s sein, nicht besser, nicht schlechter, erstmal nur anders, und dem begegnet man nicht zwangsläufig stärker, reifer oder weiser durchs zuvor erlittene Scheitern, sondern ebenfalls erstmal nur anders.
Dieses „andere“ zuzulassen, obgleich ihm wiederum die Möglichkeit eines weiteren Scheiterns innewohnt – darin liegt eine Entscheidung für Freiheit, die man selbst treffen kann.
Für den 12. Dezember.
Heute vor 26 Jahren habe ich zum ersten Mal geheiratet, knapp fünf Jahre später hielt ich das amtliche Scheiterattest in Sachen Beziehung in den Händen: eine Scheidungsurkunde.
Ich wollte es damals so, und neben der Kündigung meines Jobs in der IT war es das einzige Scheitern, das mir anschließend eine Art von Freiheit bescherte: die Freiheit, Unpassendes hinter mir zu lassen und mich Neuem zuzuwenden. Gratis gab’s noch die Wahlfreiheit dazu: mich neu/anders/überhaupt entscheiden zu müssen bzw. zu dürfen – die Freiheit von etwas hat ja nicht selten die Freiheit zu etwas gleich im Schlepptau.
Alle anderen Scheiterfälle in meinem Leben fallen unter völlig menschengewöhnliches Auf-die-Schnauze-Fallen, das mal üble Schürfwunden, mal bloß kleinere Kratzer nach sich zog.
Eine Sonderform des Scheiterns ist das Zuzweitscheitern, ihre etablierteste Ausprägung nennt sich Ehe. Freilich scheitert darin auch jeder jeweils für sich, doch das arg nahe und alltägliche Vorhandensein eines anderen verleitet gelegentlich dazu, diesem anderen mindestens eine Mitverantwortung am eigenen Misslingen zuzuschieben: mir ist das nur passiert, weil du […] / hättest du nur nicht […], wäre mir das sicher gelungen usw. – die Langzeitlebensgemeinschaftslädierten werden wissen, was gemeint ist, die Eheerprobten eh.
Eine der Ingredienzien einer gelingenden Beziehung ist, so ist‘s den meisten vermittelt worden, den anderen so anzunehmen, wie er oder sie nun mal ist, weil wir aber – dem lebenslangen Gescheitere sei Dank – auch Werdende sind und nicht nur So-Seiende, geben wir natürlich die Hoffnung nicht auf, dass alles – sogar man selbst und, ja: sehr gern auch der andere – sich ändern oder entwickeln könne oder würde oder gar wolle, und bis es soweit ist, scheitern wir immer wieder auch an der Annahme, dass die Liebe, deretwegen man sich ja mal zusammengetan hat, schon dafür sorgen würde, dass einem das mit dem Annehmen wechselseitig irgendwie gelänge und es gelingt ja manches Mal auch irgendwie.
In modernen Ehewerkstätten, in denen sich die Partner auf gleicher Hirn- und Augenhöhe begegnen, wird also gehobelt, die einen nennen es Beziehungsarbeit, andere sprechen von Quality Time, manche gehen zur Paartherapie, doch ganz gleich, auf welchen Namen dieses Kind, das jede Ehe hervorbringt, auch getauft wird: wo gehobelt wird, fallen Späne.
Manchmal sind es nur ein paar kleine Splitter, bisweilen wirft die ganze Hobelei auch beachtliche Holzstücke ab, im Laufe der Jahre türmt sich da jedenfalls ordentlich was auf in all den privaten Werkstätten, in die nur äußerst ungern oder erst dann, wenn einem der ganze Verhau komplett über den Kopf gewachsen ist, jemand Außenstehendes hineingucken darf.
Um jene Arbeitsräume vor der Verwahrlosung zu bewahren, empfiehlt es sich daher von Zeit zu Zeit, all die kleinen und großen Scheite, die das eheliche Scheitern so hinterlassen hat, vom Werkstattboden zusammenzukehren und sie aufzuschichten zu einem großen Scheiterhaufen, diesen gemeinsam anzuzünden und sich an seinem Feuer zu wärmen für die nächste Runde des Zusammenlebens.
Text: Natascha Holterman
„Heute vor 26 Jahren habe ich zum ersten Mal geheiratet“
Erstaunlich, daß man das so sagt, immerhin ist es ein Gemeinschaftsakt.
Wie „man“ das so sagt, weiß ich nicht. Wenn ich von mir erzähle und darüber hinaus von einem Wir, das es seit Langem nicht mehr gibt, schreibe ich jedenfalls „ich“.
Großartiger Text. Sehr gerne und mit viel Gewinn gelesen.
Das freut mich, liebe Mützenfalterin, und ein bisschen neugierig wäre ich ja, worin der Gewinn bestand.
Bei den nächsten Einladungen von Frau Graugans zu diversen Mutmassungen bin ich geneigt, Sie als Auftragsautorin zu engagieren. Großartiger Text, der mich daran erinnert, um wieviel tiefschürfender die Antwort zum gestellten Thema ausfallen kann als die eigene.
Herzlichen Dank, aber bitte stapeln Sie nicht so tief, werter Blogkollege!
Aufträge nähme ich dennoch an, übers Honorar würden wir uns sicher einig werden (aktuell mach ich’s nicht unter einem Germknödel, Sie können nachher auf meinem Blog nachlesen, wieso, doch bis zu den Mutmaßungen im nächsten Jahr kann sich die Honorarvorstellungen auch schon wieder geändert haben).
Ein sehr dichter Text, der das Scheitern für mich in ein anderes Licht stellt, in das des Lebens, statt dem des Kämpfens, Siegens und damit Verlierens. Dafür und für vieles andere, was du so gekonnt formulierst meinen Dank. (Und für Beckett)
Herzliche Grüße, Ulli
Liebe Ulli,
hab Dank für deine Resonanz – ich sehe schon auch die andere Seite des Scheiterns (das Niedergedrückte, das Verloren-Haben, vielleicht auch mal das Verzweifelte), doch in erster Linie erscheint’s mir als ganz gewöhnliche Entwicklungshilfe, wenn man scheitern darf und kann.
Herzliche Grüße zurück,
Natascha
Sehr schönes Ende.
Danke!