Sechs Millionen

Dies ist die Dokumentation eines Scheiterns.

Vor zehn Jahren war ich mit zwei befreundeten Frauen im jüdischen Museum in Berlin . Die Zahl: “ 6 Millionen“ hat eine Hilflosigkeit und Ohnmacht ausgelöst und führte zum Versuch, ein Kunstprojekt zu beginnen. Wir wollten Striche machen, einen für jedes Menschenleben und einen eigenen Raum dafür schaffen, zum Gedächtnis oder einfach, um irgendetwas tun zu können, wofür Worte nicht ausreichen. Wie kann man sich so eine Zahl vorstellen? Wie soll man sich überhaupt dieser Zahl stellen?

Wir haben begonnen, Striche zu machen.

Ich bin schon nach 4000 Strichen ausgestiegen, die Vorstellung, mit einem Strich ein gesamtes Menschenleben wegzustreichen…immer vier gebündelt und den fünften quer…mein Bleistift wurde immer schwerer und meine Gedanken dazu, vor Entsetzen geschüttelt , gab ich auf…meine Blätter habe ich so verräumt, daß ich sie nicht mehr finden kann.

Die zweite von uns „schaffte“ 140.000 . Dann war sie physisch und psychisch so am Ende ihrer Kräfte, daß sie nicht mehr konnte…gelähmt vor Entsetzen über die Unbegreiflichkeit dieser Zahl und der Tötungsmaschine gab auch sie auf…die Blätter hat auch sie so sehr versteckt, daß sie nicht mehr auffindbar sind.

Die dritte von uns machte Striche in jeder freien Minute, einen Monat  lang, voller Schuldgefühle bis heute und Scham darüber, nicht wenigstens eine Million zu schaffen, brach auch sie zusammen. Ihre Blätter hatte sie so verwahrt, daß sie heute gezeigt werden können. Ein merkwürdiges Dokument, ihre Hand formte wie von selber Figuren und Gesichter während sie Striche machte…nach 160.000 konnte sie keinen einzigen Strich mehr machen. Es war vorbei.

Wir haben zehn Jahre kaum darüber gesprochen, es scheint bis heute keine adäquaten Worte dafür zu geben. Wir können es bis heute nicht fassen, warum es nicht möglich war, diese Striche zu machen und einen begehbaren Kunstraum zu schaffen, um diese Zahl der vergeudeten Leben sichtbar…erlebbar zu machen, ich halte diese Idee weiterhin für gut, und ich schäme mich vor den Ermordeten, daß wir aufgegeben haben. Nicht die gute Absicht hat nachgelassen und auch nicht die künstlerische Herausforderung hätte uns abhalten können…

Nein

sondern wir hatten es mit einer Kraft zu tun , die den innersten Kern zersetzt.

Wir sind am Grauen gescheitert.

 

 

 














 

Ich verbeuge mich in tiefer Ehrfurcht vor Euch, denen das Leben genommen wurde.

21 Gedanken zu „Sechs Millionen

  1. Ein „Gefällt-mir“ geht natürlich nicht.
    Für mich wäre es ein merkwürdiges Unterfangen, dieses so gut gemeinte Projekt.
    Mit nichts, mit gar nichts kann man diesen Toten gerecht werden, erst recht nicht mit Strichen. Mir wären da viel früher Weigerungsgedanken gekommen; ich hätte dem Projekt nicht zugestimmt.
    Es scheint mir nicht richtig, vom Scheitern zu sprechen!
    Allein Euren guten Willen möchte ich loben. So, so verständlich!
    Lauter „nicht“ – ich hoffe, dass ich trotzdem oder weil verstanden werde.

    1. Und wie Du verstanden wirst!
      Ich dank Dir
      Ja, vielleicht ist Scheitern das falsche Wort…und doch…es brachte unglaubliche Berührung mit unaussprechlichen Phänomenen und Zwischenwelten eines Grauens, das mir in der Firm noch nicht begegnet ist

  2. Ein mutiges Projekt, das unmöglich ist, von einigen wenigen ausgeführt zu werden. Wie sollte das möglich sein, wo es auch so vieler bedurfte, diese vielen Menschen, für die jene Striche in die Sichtbarkeit gebracht wurden, einfach und doch so planvoll auszulöschen?
    Das Grauen umfasst sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart.

    1. Ich dank Dir sehr, liebe Springerin…Du hast genau das verstanden, was soviel Grauen ausgelöst hat…ja, dieses „Planvolle“, im Angesicht des großen Schlachtens…mein Gott…genau da sind wir hineingeraten mit unserem reichlich naiven „Sichstellenmögen“…es war ein Tripp in die Hölle.
      Das Projekt hab ich jetzt endlich nach 10 Jahre beendet, aber irgendwas wirkt nach…das ist niemals zu Ende…
      Vielleicht hast du Recht, es sollten viele, viele, daran arbeiten…aber ich hätte große Angst, nochmal in diese Hölle zu schauen!
      Herzensgrüße an Dich!

  3. Welch innere Kraft wohl im Strichemachen steckt. Sehr sehr heftig und ich denke das es fast nicht psychisch auszuhalten ist / euch meinen Dank / auch ich würde nicht von scheitern reden.

    1. Ja, lieber Ludwig, es war so heftig, daß wir immer noch nicht darüber sprechen können, was jede von uns erlebt hat…sogar die Suche nach den Aufzeichnungen hat alles aufgewühlt!
      Und ich schäme mich, von meinem nicht auszuhaltendem Grausen beim Strichemachen zu sprechen im Angesicht derer, die ermordet wurden!
      Du verstehst das, gell? Ich danke dir für Deine Worte!

  4. Nachtrag:
    Spannend wäre es ja soviele Striche zu machen für etwas positives / was dann wohl passieren würde mit dem Machendem?
    Denke die Energie in dieser Idee würde das machen beeinflussen.

  5. Du Liebe, ich schaue nachher einmal nach, es gibt einen Film „Am Arsch der Welt“ (den ich dir dann gerne zuschicke, wenn ich ihn noch habe)- hauptsächlich geht es um ein Wohnprojekt, aber darin gibt es eine längere Szene, einer der Bewohner spielt riesige Gongs, am neuen Wohnort war ein ehemaliges KZ, dort wurden Tausende Menschen umgebracht (ich weiss leider die genaue Zahl nicht mehr), für jeden von ihnen schlug er den Gong, ohne Essen, ohne Schlaf, er ist bis an den Rand gegangen- eine unglaubliche Aktion, die mir tief unter die Haut ging, so wie euer Projekt und die gezeigten Bilder-
    Für mich geht es weder ums Scheitern noch ums Gelingen, es geht darum was solch Grauen mit uns macht, wenn wir uns ihm, wie auch immer noch, stellen und das habt ihr gemacht, das geht mir auch unter die Haut.
    Ich grüsse dich von Herzen
    Ulli

    1. Ach ja, Ulli, hab Dank, daß Du das so nah an Dich heranläßt!
      Ja, wir wollten uns stellen…das beschämende Gefühl des Scheiterns kommt, weil wir uns extrem versagend gefühlt haben, ich bin vor dem Grauen weggelaufen, ich musste flüchten, ich sah sofort in den Abgrund und er sah zurück, entsetzlich

      Ich habe diesen Versuch eines sich stellens jetzt, nach 10 Jahren, beendet…
      Aber wir sind immer noch so benommen, keine kann den anderen schildern, was sie erlebt hat. Es bleibt eine Erschütterung zurück.
      Ich grüß Dich herzlich, ich glaub, Du hast verstanden, was so schlecht in Worte zu fassen ist…hab vielen Dank, Deine Worte tun mir gut!

  6. Also … nein, nein, und nochmals nein … hier von einem scheitern zu sprechen … da geh ich nicht mit … Eure Reaktion war eine zutiefst menschliche Reaktion angesichts dieser Version der Visualisierung des unvorstellbaren Grauens jener Dekade.

    Und, eine zutiefst menschliche Reaktion, die kann ich beim besten Willen nicht als „scheitern“ deklarieren …

    Großer Respekt meinerseits für diese damalige Aktion !

    1. Ach, lieber Meister, weißt Du, da muß man sich einfach versagend vorkommen, angesichts derer, die ermordet wurden…und man selber schafft es nicht mal, ein paar Striche zu machen…

      Und ja, Du hast schon Recht, die Visualisierung dieses Grauens hat so ein furchtbares Entsetzen ausgelöst, wie eine kalte Hand hat es mich schon bald, die anderen später und so heftig, daß sie beide immer noch nicht sagen konnten, was mit ihnen geschehen ist…in einen Abgrund gezogen, unfassbar und lähmend vor Verderbtheit …
      es ist nicht möglich, Worte zu finden.

      Wir haben jetzt diese Aktion offiziell wenigstens mal beendet, nach 10 Jahren.
      Aber es wirkt immer noch etwas Unbewältigtes in uns und wir können es nur verdrängen und einigermaßen im Zaum halten.

      Dank Dir sehr für Dein Verstehen.

  7. Ich bin beeindruckt von eurem Unterfangen und Beginn(en). Meine Gedanken gehen weiter zu den heutigen Toten . Es einfach ein Grauen, dass sich kaum spiegeln und verarbeiten lässt. Ich hätte nach einem oder dem fünften Strich, des Durchstreichens aufgegeben.
    Danke fürs Zeigen der Idee.

    1. Ja, liebe Uta, Du hast so Recht, das Spiegeln ist sehr gefährlich, denn man wird in den Spiegel hineingezogen und dann sieht man Dinge, die so eine Vernichtungskraft haben, daß man kaum mehr herauskommt.

  8. liebe graugans, mich zieht die schilderung eures ganz und gar nicht „gescheiterten“ projektes immer wieder her auf diese seite. da ist etwas, das mir keine ruhe lässt, das mich verstört und auflädt zugleich. ich bekomm es nicht recht zu fassen, es hat etwas damit zu tun, an eine (persönliche) grenze gehen zu wollen, eine grenzerfahrung provozieren zu wollen aus respekt für die opfer, aus solidarität, tiefstem mitgefühl ..
    vergangenen herbst war ich zu einer von sufis organisierten gedenkfeier im KZ dachau eingeladen. wir standen bei den öfen, die meisten weiß gekleidet, es wurde in verschiedenen europäischen sprachen gesprochen, gebetet, es wurde gesungen – und zum schluss, bevor wir das krematorium verließen, um chantend zum karmelkloster hinüber zu gehen, wo ein konzert stattfinden sollte, legte eine frau einzelne blumen in die öfen, in jedem schwarzen ofenloch leuchteten blumen, zwei, drei, vier blumen … das hat mich so ergriffen wie selten etwas. und es war große, große energie und kraft da. auch hoffnung. trotz allem: hoffnung.
    sei gegrüßt, liebe graugans!

    1. Danke, Du wunderbare Pega, daß du Dich herziehen läßt! Du spürst es auch, gell, da ist noch was, was auch uns nicht in Ruhe läßt!
      Und es ist schon sehr merkwürdig, wenn wir drei beisammen sind (und grad waren wir paar Tage in Berlin)…sind wir sehr gesprächsbereit, aber über dieses Projekt können wir kaum reden…aber es ist noch nicht aller Tage Abend, die Toten sind zwar tot, aber die Hoffnung darf nicht auch noch sterben…das hast du gut rübergebracht, dank Dir! Die Blumen sind eine gute Geste…ein Anfang…ich glaube, wir werden auch noch etwas finden…
      Liebe Grüße
      Graugans

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