„Schweres Gepäck – Flucht und Vertreibung als Lebensthema“ ist der Titel des Buches von Helga Hirsch, das ich mir gerade erlese. Eine schmerzhafte Lektüre, denn obwohl die Flüchtlinge ja „nichts hatten“, tragen wir Kinder von ihnen schwer an ihrem Gepäck.
Was weiß ich vom Weg meiner Mutter? Sie ist schon über 40 Jahre tot, weggeflogen wie die wilde Schwanenfrau im Märchen. Geblieben sind ein paar Geschichten über das Vertreiben und meine eigene Unsicherheit in den Verortungen meines Lebens. Meine Mutter wurde in einen Viehwaggon mit vielen anderen Verjagden gepfercht und und irgendwo hingebracht. Das zukünftige Irgendwo meiner Mutter war dann hier, ein Bauernweiler im südöstlichsten Winkel von Bayern, zwangsuntergebracht bei einem Bauern in einer winzigen, kalten Kammer unterm Dach. Mein Vater , blind vor Liebe zu diesem wunderschönen, rehäugigen Geschöpf, holte sie zu sich in eine zweifelhafte Heimat, Flüchtlingsweiber waren nicht willkommen, das bekam sie zu spüren. Alles wackliger Boden, sie gehörte nicht hierher, aber wohin dann? Wo kam sie her? Ein paar Photographien sind geblieben, sie als Kind mit traurigen Märchenaugen, sie auf der Bühne in verschiedenen Rollen, sie im Nirgendwo unterwegs. Ich reise an den Ort Bohosudov (Mariaschein), nein, ich finde keine Spuren, keine Namen von Urgroßeltern am Friedhof, schon längst alles untergegangen. In Karlsbad (Karlovivary), von wo aus die Verjagung begann, keine Spuren. Ich finde einen Zettel mit einer Adresse in Berlin, ich suche die Stadt ab, nein, diese Straße gibt es gar nicht mehr, ausgelöscht, verweht, vergangen. Ihr Leben, wie Kiesel am Strand, das Wasser kommt und geht, zieht hinaus aufs Meer, spuckt wieder an Land, manchmal bleiben ein paar Kiesel liegen, eine Zeitlang, bis zur nächsten Flut…
„Reich mir die Hand, mein Leben…“ – hat sie oft gesungen.
Und ich, viel zu alt, um jung zu sein und viel zu jung zum Altwerden, um mich herum lauter Abgründe, sitze auf der Schwelle und lasse die Beine baumeln