Archiv für den Tag: 15. November 2023

#29 Der Findling

Auf dem Weg zur Malfreundin ins Städtchen am Grenzfluß nach Österreich fahre ich durch eine schier unwirkliche Gegend, über ein Land wie unter einer Glasglocke. Vereinzelt liegen große Wasserlachen auf den Wiesen, in denen sich der Himmel spiegelt; Überbleibsel der Flut des tagelangen Dauerregens. Der östliche Horizont beleuchtet mit viel zu grellem rosa Licht eine Bühne, auf der die Kulissenschieber die frisch dunkelblau bemalten Berge,  mit ihren puderzuckerweißen Gipfeln bedrohlich immer weiter zum Rand hinschieben, bald werden sie aufs Publikum fallen. An einer der Felsenwände des Lattengebirges ist jetzt, sorgfältig ausgeleuchtet, das kitschige Märchenschloß zu sehen. Es taucht nur auf, wenn der Föhn es so einrichtet. Es gibt noch so ein Schloß, das hängt wie ein Adlerhorst in einer steinernen Falte in einem der Chiemgauer Berge, man sieht es  nur von einem bestimmten Platz aus, am Uferweg um den Chiemsee. Die Leute, denen ich von diesen geheimnisvollen Schlössern erzählt habe, konnten sie nicht erkennen, ich weiß aber, daß sie da sind und die Dächer ihrer vielen Türmchen glänzen in der Sonne. Möglich macht das der Föhn, der ansonsten ziemlich lästig ist, seine Stürme wehen alles durcheinander, was vorher zumindest noch ein wenig Ordnung  brachte und für Sicherheit im inneren und äußeren Gehäuse gesorgt hat. Von überall draußen wehen nach überall drinnen welke, nasse Blätter. Das Jahr liegt um mich und das alte Haus herum ausgebreitet im Schlamm, den der viele Regen, den wir im dürren Sommer so sehr ersehnt haben, jetzt hinterläßt. Der Bach wird bald überlaufen, über Salzburg leuchtet es pink und ums Hauseck herum kommt dieser merkwürdig warme Wind  und singt sein ewiges Lied vom Werden und Vergehen.

Ich schleppe die Kakteentöpfe hinein ins Haus und im Frühling wieder hinaus und dazwischen gesellen sie sich zueinander auf Fensterbänken, Tischen und Stellagen. Der Regen wird vom Wind durch alle Ritzen hindurchgejagt. Das Haus ist keineswegs dicht und es macht Geräusche und es steht nach fast dreihundert Jahren immer noch und trotzt auf seine Weise der Welt, die es nur mehr auf eine gewisse Zeit dulden wird. Irgendwann wird es von irgendwem „entkernt“ werden und dann wird es wohl „Chalet“ heißen, so nennt man heute die Wochenendresidenzen der wohlhabenden Mitmenschen, die das dann „urig“ finden und übers Wochenende mal so richtig „Booaarisch“ sein wollen.

Ganz soweit ist es noch nicht, immerhin gibt es die vier gleichalten Bauernhäuser unseres Weilers noch. Eines steht in seinen alten Außenmauern zumindest als schöne Atrappe, innen stylisch entkernt. Zweien wurde in unmittelbarer Nähe ein moderner Hausklotz vor die Nase gesetzt, mit diesem Anblick müssen sie nun bis an ihr Ende leben. Und unser Haus ist halt nahezu so geblieben, wie es gedacht war. Alle stehen davor und bewundern es, aber keiner möchte mehr drin leben.

Auch mir fällt es manchmal schwer. Das Haus ist eine eigene Wesensart und beansprucht eigenen Raum, es lebt und atmet ein und aus und manchmal habe ich das Gefühl, das Haus ist in mir und ich bin das Haus. Es ist ein Geschenk und eine Katastrophe gleichzeitig.  Und seit einiger Zeit verfolgt mich der Gedanke, über dieses Haus noch viel mehr und viel intensiver schreiben zu müssen als ich es bisher getan habe und ich bin sicher, daß es nur der Eingang ist, durch den ich hindurchtreten muß, um zu einer noch unbekannten Welt zu gelangen. Noch zögere ich, die verborgene Höhle und die Geheimfächer in den Schränken genauer anzusehen und zu beschreiben, was ich sehe.

Und es gibt einen Ort, da läuft die Zeit rückwärts und einen Eingang zu einem verfallenen Stollen tief in die Erde.

Das Jahr ist unter den gefallenen Blättern im Schlamm versunken und einen großen Stein habe ich gefunden, er ist mir von irgendwoher vor die Füße gekugelt und im Regen glänzt er.

 

An welchen Steinwänden der Großstadt die Kraulquappe entlanggeht, darüber schreibt sie dort