Archiv für den Tag: 1. November 2023

#27 Hallimasch

Für heute und morgen habe ich einen Seelenwecken gebacken, das ist ein Germzopf mit vielen Weinbeeren und Puderzuckerglasur. (Hefezopf mit Rosinen) Man kann viel bei Wikipedia und Konsorten nachlesen, wo die Bräuche und das Kultgebäck an Allerheiligen ihren Ursprung haben und was im Lauf der Zeit daraus geworden ist. Auch gibt es alte und neue Rituale, diese Zeit und ihre Durchlässigkeit nach Anderswelt zu feiern. Herr Graugans sagt, er hätte sich schon so auf den Morgen gefreut, wenn er diesen schön geflochtenen Zopf anschneiden kann. Diese Freude und das Kürbislicht am Abend vor dem Haus und allein schon das Aussprechen des Wortes „Seelenwecken“ reichen mir als Ritual, um das Besondere zu erspüren völlig aus. Es geht um die Seelen, um was sonst?

Mit dem Radl sind wir heute Nachmittag unsere Runde gefahren und da standen auf der saueren Wiese, deren uns bis dahin unbekannten Blumenreichtum wir in einer Art Jahresuhr seit dem Frühling bis zum Abmähen im Herbst  beobachtet haben, auf einmal Trollblumen.  Mit diesen begann unsere Erforschung dieser Wiese und jetzt, kurz vorm Winter wachsen dort die ersten Frühlingsblumen. Sonderbar. Schon als Kind habe ich Trollblumen geliebt und wenn ich welche sehe, dann freue ich mich, aber diese Freude ist durchzogen von einem alten Schmerz, da gibt es eine Wunde, die nie verheilt ist. Da ich als Kind kein Geld hatte, pflückte ich meiner Mutter zu ihrem Geburtstag im April einen Strauß Trollblumen. Die Geschichte nahm ihren Lauf und endete dramatisch. Meine Mutter zerfetzte alles, riss den Blumen die Köpfe ab und unter lautem Gebrüll und Beschimpfungen warf sie alles weg. Ich hatte ihre sorgsam gehüteten und versteckten Weinflaschen ausgeleert, die sie so dringend brauchte, um überhaupt irgendwie zu überleben und sich doch jeden Tag Schluck für Schluck dem Untergang entgegen zu trinken.

Ach, arme Mama, sage ich zu den Trollblumen, die ihre Köpfe wiegen, Du warst so voller Geschichten und Du hast in so großer Sehnsucht die Bühne gesucht, aber Du warst ans falsche Theater engagiert, am falschen Ort, mit dem falschen Mann und mit dem falschen Kind … das konnte nicht gutgehen. Ich wollte Dich retten, aber ich war zu klein  und der Abgrund zu tief. Verzeih. Ich steh nicht an Deinem Grab heute, Mama, Dein Grab ist in meinem Herzen, ich trage es mit mir herum.

Während Herr Graugans eine außergewöhnliche Anhäufung von Schwammerln im Wald fotografiert, fahre ich zu dem Ort, an dem verborgen von einer großen Scheune vor ein paar Jahren ein 23 jähriger Bursche in großer Verzweiflung sich in seinem Auto einschloß und mit den Auspuffgasen umbrachte. Immer mal wieder fahr ich dorthin und sag zu ihm: Ruhe in Frieden! Mir ist, als bräuchte seine arme Seele immer noch ein wenig Zuspruch. Auf der anderen Seite der Straße sind junge Burschen grad dabei, ihre selbstgebaute Hütte für den Abend vorzubereiten, sie sind völlig unverzweifelt guter Dinge und bald steigt Rauch aus dem Kamin und es riecht nach Holzfeuer und fröhlichem Beisammensein.

Herr Graugans hat inzwischen seine Fotosession beendet und zeigt mir riesige Mengen von Schwammerln, die sich über das Totholz hermachen. Sie kleben an einem großen Baumstumpf und ich erinnere mich an diese Felsenstadt Matera in Süditalien, eine der ältesten Städte der Welt, die Menschen lebten in Felshöhlen. Als wir vor vielen Jahren dort waren, trauten wir uns nicht, auch nur einen Pfirsich von den Bäumen vor der Stadt zu pflücken, so beschämt waren wir von der Armut.

Herr Graugans sagt, die Schwammerln heißen Hallimasch und früher kochte man aus ihnen einen Sud gegen plagende Hämorrhoiden. Aber das wirkliche Geheimnis der Hallimasche ist der  in ihrem Mycel verborgene chemischeStoff: „Luciferin“, sobald der in frisches Holz eindringt gibt es eine Reaktion mit dem Sauerstoff aus der Luft. Und dann leuchtet es! Da werde ich mich selbstverständlich baldigst nächtens auf Erkundung begeben, um ihn zu sehen, den leuchtenden Baum!

Und daselbst sind die Erkundungsstreifzüge der lieben Frau Kraulquappe!