Archiv für den Tag: 26. Juni 2023

#9 In den Gängen

Während wir an der Brücke stehen, um in die Bundesstraße einzubiegen und über die neuesten Ungereimtheiten im Kampf der selbsternannten Giganten in Russland sprechen, die aus einem miesen Blockbuster stammen könnten, wären sie nicht blutige Realität, hören wir sie schon, bevor wir sie sehen. Schwere Fahrzeuge der Bundeswehr  bewegen sich im Konvoi mit diesem grausigen Dröhnen, das nur Kriegsfahrzeuge machen, an uns vorbei. Zehn, zwanzig, oder mehr, ich zähle nicht, mir kommt die Reihe endlos vor … und sofort ist es an diesem heißverschwitzten Sommertag zu Beginn einer kleinen Spazierfahrt so kalt, daß ich fröstle. Die Erkenntnis, die wir ansonsten gerne von uns wegschieben, fällt uns wie Eisklumpen vor die Füsse. Es ist Krieg. Vor unserer Haustüre.

In meinen Kinder- und Jugendjahren, da gab es dauernd irgendwo Manöver und es sind oft Panzer und alle möglichen Fahrzeuge der Bundeswehr auf der Straße unterwegs gewesen und wir haben den freundlichen Soldaten hinten in den LKWs zu gewunken. Einmal hat eine ganze Truppe bei uns übernachtet, sie waren vom Weg abgekommen und hatten sich bei Nacht und Nebel verirrt. Sie waren völlig übermüdet vom langen Marsch, saßen verschwitzt und kaputt herum, leerten ihre Blechdosen, schenkten mir ein paar Kekse und heißbegehrte Schokolade. Meine Mutter holte alles, was wir hatten, ich nehme an, Brot und Margarine und sie kochte Kaffee. Ein ganz lieber junger Soldat malte mit mir Buchstaben in ein Heft. Ich war noch ganz klein und saß auf seinem Knie. Seine warmherzige Freundlichkeit spüre ich noch heute und wie traurig ich war, als der ganze Trupp am nächsten Morgen die tarngrünen schweren Schlafsäcke auf unserem Stubenboden zusammenrollte und sich mit Handgeben und sich für Logis bedankend wieder auf den vom Vater genau aufgezeichneten Weiterweg machte. Wir standen alle vor dem Haus, Oma und Opa, Papa, Mama und ich und winkten ihnen nach und der liebe Soldat, der mit mir Schreiben geübt hatte, lief nochmal schnell zurück, warf mich in die Luft, fing mich lachend wieder auf und holte aus seiner Uniformtasche noch ein paar Bonbons für mich, dann drehte er sich um und lief seinen Kameraden hinterher. Ich wünsche so sehr, daß er es ihm gut erging im Leben, er hat bis heute einen Platz in meinem Herzen.

Wir fuhren dann gestern hinter dem Konvoi her mit diesem mulmigen Gefühl und begleiteten ihn bis dahin, wo er in Richtung Stützpunkt abbog.

Unsere Spazierfahrt endete dort, wo neben dem Gerüst an einer alten Kirche dieser riesige Kran steht, den wollte mir Herr Graugans zeigen, weil er weiß, daß ich Kräne liebe. 79 Meter ist er hoch, der Kirchturm geht ihm nur ungefähr bis zur Hälfte und da Sonntag war, konnte ich unter dem Sockel durchgehen, auf dem er steht. Und ich sah die Leiter im Inneren, die der Kranführer hinaufsteigen muß, um oben in seine Kabine zu gelangen … die eine Art Freisitz zu sein scheint. Meine Güte, wie schwindelfrei muß man sein, um da hinauf zu kommen und vor allem: wieder herunter! Aber ich stelle mir vor, daß es ein besonderes Gefühl sein muß, so weit oben zu sitzen, dem Himmel so nah und auf dem Arm die Wolken balancierend…

Der Traum, Kranführerin zu sein, hätte sich leider nie erfüllt, weil ich mich zwar so ziemlich überall hinauf traue, aber leider nicht mehr hinunter, das war immer schon beim Kirschenpflücken ein Problem und scheint den vierbeinigen Katzenwesen nicht ganz unähnlich zu sein, die blitzschnell ganz oben in der Baumkrone sind und dann schreien…wie der Herbert, der als kleiner Kater auf den obersten Balken unseres Heubodens kletterte und dann wie am Spieß schrie … Gottlob kam grad der Nachbar des Weges, der als Spengler schon von Berufs wegen schwindelfrei ist, und er stieg auf die längste Leiter und versuchte sein Bestes. Herbert wurde gerettet, dem Nachbarn lief das Blut den Arm runter.

Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich mal auf einem Klettersteig in den Berchtesgadener Bergen. Ich stieg auf einer ewig langen steilen Leiter am Felsen nach oben und drehte mich auf der Hälfte um und sah nach unten, was man nie nie nie machen sollte … unten , sehr sehr weit unten lag der grüne Königsee…

Manchmal denke ich, vielleicht wäre es gut gewesen, den Gabelstaplerschein zu machen, das ist auch so ein Fahrzeug, das ich liebe. Ich würde gerne einfach so mit  Hilfe der Hydraulik viele Paletten hochheben können. Und sofort fällt mir einer meiner absoluten Lieblingsfilme ein: „In den Gängen“. Darin geht es natürlich nicht nur um Gabelstapler, aber halt auch.  Eigentlich geht es um die verschiedensten Aus- und Einprägungen von Einsamkeit und die Versuche, damit zu leben, zu überleben. Unzählige Male hab ich ihn schon gesehen, aber immer wieder entdecke ich unbekannte Details und ich gehe mit den Haupt-und Nebenpersonen durch das Lager eines großen Einkaufsmarktes irgendwo in Deutschland im Nirgendwo einer Provinz hinter den Verkaufsflächen, dort, wo die Unsichtbaren sind, die Ware von hier nach dort mit dem Stapler transportieren. Dort , wo sie immer wieder versuchen, sich zu mögen, sich trauen, das auch zu zeigen, zu scheitern und wieder weiterzumachen, ein wenig Glück, ein Yes-Törtchen mit Kerze zum Geburtstag … mit der Trostlosigkeit zu leben und zu sterben, weil man ihr nicht ausweichen kann. Und mit dem Stapler herum zu fahren … und wenn man die leere Gabel ganz nach oben und langsam wieder runterfährt, dann hört sich das Geräusch der Hydraulik an wie Meeresrauschen.

„In den Gängen“ –  ich liebe diesen Film.

Und da schreibt die Kraulquappe