Archiv für den Tag: 5. Juni 2023

#6 Ahmed Altan: „Ich rauche nur, wenn ich nervös bin“.

Der Wind in der letzten Nacht hat mindestens die Hälfte der Wildrosen entblättert. Die Zartheit der Blüten konnte ihm nicht widerstehen. Sie blühen nur ein paar Tage. In dieser kurzen Zeitspanne ereignet sich das Wunder, man kann es riechen, sehen, aber vor allem, spüren, es geschieht aus sich heraus und hat eine eigene Gesetzmäßigkeit, der man sich fügen muß, sonst verpasst man es. Hinsetzen, still sein und schauen, das ist alles. Und man muß aushalten können, daß im Aufblühen das Vergehen enthalten ist. Dann fliegt das Wunder wieder weg, zurück bleibt eine kleine traurige Melancholie, das ist der Preis.

Noch weht ein zarter Hauch von einem Duft durchs offene Fenster. Neben mir steht die Kanne Tee und daneben liegt das Buch, das ich um Punkt zwölf Uhr zugeklappt habe: Ahmed Altan: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis. Ein kleines dünnes Buch, das ich mit gebracht habe aus einer Veranstaltung im Salzburger Literaturhaus. Drei Abende waren es: „Das Europa der Muttersprachen“, heuer  mit Lesungen von SchriftstellerInnen aus Städten am Schwarzen Meer, Istanbul, Tbilisi, Czernowitz. Und wie immer, waren auch die Leiterinnen der dortigen Literaturhäuser eingeladen, um über ihre Arbeit unter den jeweiligen Bedingungen zu sprechen. Kleine Oasen des Glücks in diesem Haus am H.C.Artmannplatz , da, „wo das Leben zur Sprache kommt“, wie der Slogan des Hauses ganz richtig heißt. Inmitten von einem angenehmen und interessierten Publikum diesen fremden Menschen lauschen zu dürfen, die trotz größter politischer Widrigkeiten förmlich um ihr Leben schreiben und Literaturhäuser betrieben werden, obwohl Bomben und sonstige Bedrohungen über die Dächer fliegen, betrachte ich als großes Geschenk. Ich bin so voller Texte und Eindrücke, ich könnte noch kein wirkliches Fazit über diese drei Abende erstellen. Aber was mich durchgehen zutiefst berührt ist, daß alle um ihre eigene Sprache kämpfen, die oft ganz beträchtlich von der landessprachlichen Norm abweicht. Ich fühle mich allen nahe, die ihre Sprache sprechen nicht nur gegen den Mainstream wie hierzulande, wo man ja mit Mundart nur belächelt wird und als etwas geistig minderbemittelt betrachtet – sondern vor allem denen, die ihre Sprache unter großer Bedrohung sprechen. Ich erfahre, daß die baskische Sprache kein Land hat und den Kurden weder Land noch Sprache genehmigt wird. Ich liebe es, in der Sprache der Menschen zu hören, wo sie herkommen und beklage es sehr, daß schon den Kindern eine Art Einheitsdeutsch aufgezwungen wird und sie keine sprachliche Heimat mehr haben dürfen … aber das ist ein eigenes Feld,  eins meiner großen Lebensthemen und ich würde gerne mal ein Projekt ins Leben rufen, in dem es darum geht, wie wir sprechen und warum wir so sprechen, wie wir sprechen… ich fürchte, da gäbe es wohl nur wenige, die mitmachten, wenn überhaupt, denn das ist ein ganz heikles Thema, weil es da ja auch um Heimat geht und diesen Begriff scheinen wir alle nahezu zu fürchten, fast so sehr wie Einsamkeit, Kranksein, Alt werden …

Ohne nochmal auf Ahmet Altan hinzuweisen möchte ich diesen Text hier nicht beenden. Während ich hier am Rechner sitze hatte ich ständig diese Aufforderung in mir: Sag allen, sie sollen dieses Buch lesen! Das ist schwierig und ich weiß auch nicht, wie ich es besser formulieren könnte, also sage ich einfach denen, die es nicht längst schon kennen, bitte, lest dieses Buch:

Ahmet Altan: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis.

Er ist ja, wie viele wissen, auf großen internationalen Druck nach fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden, in dem er eigentlich als Oppositioneller lebenslang sitzen hätte müssen, aber man fand andere Wege, ihn zu quälen und hat ihm Ausreiseverbot erteilt und so konnte er nicht nach Salzburg kommen. Er hat eine Videobotschaft geschickt, die herzzerreissend ist wie das Buch. Heutzutage gibt es ja für alles Triggerwarnungen, womöglich sollte ich davor warnen, es vor dem Urlaub in Istanbul zu lesen, denn man könnte sonst beim Bummel durch die Straßen sich erinnern, daß unterhalb die überfüllten Kerker sind …  Der alte und soeben wieder erneuerte Machthaber scheint mit seiner Politik völlig richtig zu liegen, zumindest, was die touristische Auslastung seines Reiches anbelangt, da liegen die Zahlen höher als je zuvor.

Ich danke Ahmet Altan für dieses Buch, von dem ich täglich nur ein paar Seiten lese und jedes Wort eine Kostbarkeit bedeutet.

Herzlichen Dank dem wunderbaren Leiter, Tomas Friedmann und allen Beteiligten, es war mir eine große Ehre, Zuhörerin sein zu dürfen!

Perihan Magden
Ahmed Altan
Istanbul

Ana Kordzaia-Samadashvili
Tbilisi

Sofia Andruchowytsch
Igor Pomeranzew
Czernowitz

 

„Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten.
Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.“
Ahmed Altan

 

Auch die Kraulquappe hat einen neuen Text.