Archiv für den Tag: 19. Juni 2023

#8 Verwunschen

Der Zeitpunkt, mich um 12 Uhr mittags zum Schreiben hinzusetzen ist schwer einzuhalten. Sie wissen natürlich längst, daß man mit mir als Nachtmensch erst um Mittag herum rechnen kann und sobald auch nur ein Geräusch aus der Küche zu vernehmen ist, stehen sie schon da. Und wenn ich nicht reagiere, dann suchen sie mich. Der Kleine vom Nachbarn hat entschieden, mindestens halbtags bei uns zu leben und hat einen Weg gefunden, bei geschlossener Küchentüre trotzdem ins Haus zu gelangen. Er klettert den Hollerbusch hinauf, springt auf den Gang (Balkon) und kommt zur Gangtüre, die im Sommer immer offen steht, herein in den Söller und dann schaut er, ob er was zum Essen findet oder er legt sich schlafen. Einer Katze den selbst ausgewählten Wohn- und Schlafort zu verbieten, ist ein vollkommen sinnloses Unterfangen. Genauso sinnlos ist es, am Rechner im ersten Stock zu sitzen und zu meinen, man könne arbeiten, wenn unten die ganze Fellbande herumlungert und auf ihr Gewohnheitsrecht pocht. Herbert hat jetzt auch den Weg über den Hollerbusch erkannt und steht mit vorwurfsvoller Stimme neben mir. Aufstehen mitten im Satz und runtergehen, alle füttern, natürlich einzeln und nacheinander … wie es ihnen genehm ist und den sich ständig ändernden Dominanzen entspricht. Dann, mit Kraft aufgetankt, je nach Stimmung, trollen sie sich wieder, die einen gehen auf die Jagd, die anderen zu den Schlafplätzen, die Katzenwesen. Sie als „Haustiere“ zu bezeichnen, wäre unangemessen. Das Haus wird benutzt als komfortable Unterkunft bei unguten Witterungsverhältnissen, der Mensch ist geschätzter Futtergeber, auf den man angewiesen ist, das wars aber schon. Unsere Katzen sind Familienmitglieder, ob sie das auch so sehen, ist relativ ungewiß. Sie streichen gerne um unsere Beine und sind nahezu immer in der Nähe, wo wir uns auch draußen aufhalten. Es ist äußerst ratsam, in ihrer schnurrenden und einschmeichelnden Gegenwart nie die Raubkatze in ihrem Wesen zu vergessen, die eigenen Instinkten folgt, und von der man als Mensch nur deshalb nicht gefressen wird, weil man soviel größer ist.

Ein kleiner, lauer Wind streicht mir ganz zart übers Gesicht, während ich aus dem Fenster schaue, hinüber zum Hügel, der sich zum Wald hinaufzieht. Almenrausch, Flieder, Buchenschößlinge, Felsenbirne, Holler, Kornelkirsche und Wildrosen überwuchern den Zaun meines verwunschenen Gartens. Früher stand dort mal ein uraltes kleines Waschhaus, es wurde „Badl“ genannt. Mir kommt heute vor, als hätte ich einen Teil meiner Kindheit dort verbracht , alleine mit den magischen Geheimnissen dieses Ortes, von denen ich niemals jemand erzählt habe. Noch heute blutet mir das Herz, wenn ich daran denke, wie es vom Vater abgerissen wurde wegen angeblicher Baufälligkeit, an die ich nie geglaubt habe. Ich sehe noch die großen Bachsteine herumliegen, aus denen es gebaut war in dieser trostlosen Schönheit in der Armseligkeit eines kleinen Bauerngütels. Der Vater hat dann einen Nutzgarten dort angelegt und jahrzehntelang in erbittertem Krieg um seine Ernte gekämpft in pausenlosem Ermorden von Schnecken und Wühlmäusen und ständigem Zurückdrängen der hereinkriechenden Wildnis. Ich habe die Versuche, ohne Tötungsaktionen zu Gemüse zu kommen, lange schon aufgegeben und alles sich selber überlassen. Dann hat sich alles im eigenen Rhythmus gewandelt und lebt nach eigenwilligen Gesetzmäßigkeiten, die nicht mehr angepasst sind an menschliche Maßstäbe. Manchmal ist mir, als würde sich der Ort regenerieren, sich dehnen und strecken, ein- und ausatmen und manchmal ist sie wieder da, diese Magie des verwunschenen Ortes meiner Kindheit. Alles wächst, wie es will, Teppiche von duftenden Bartnelken entstanden, die ich eigentlich ganz woanders vergeblich gepflanzt hatte, Edelrosen wachsen, mitten im hohen Gras, gestützt von Akeleien. Einen Ameisenhügel gibt es, gebaut wie eine Burg mit zwei Stockwerken unter der Erde und Spähertrupps drumherum. Ein Baum wächst, dessen Art niemand kennt, den ich schon mehrmals komplett abgeschnitten habe, aber der sich immer wieder ans Licht kämpft, jetzt kann er bleiben.  In meinem verwunschenen Garten gibt es keinen Tod, wenn etwas aufhört zu atmen, dann atmet ein anderes dafür weiter. Es stirbt nichts, sondern es verwandelt sich, es zieht sich zurück in die Erde, um bei geeigneten Bedingungen wieder zu keimen. In meinem verwunschenen Garten sitzt der Tod auf warmen Steinen und döst vor sich hin, lächelnd.

Es gibt hier keine Bedrohung, nicht mal ich werde wohl so empfunden, wenn ich mit der Sense ab und an meine, es müsse doch Wege durchs Dickicht geben und was man halt so denkt als zivilisierter Mensch … wurde uns denn nicht lebenslang beigebracht, daß diese ungezügelte Wildnis zu fürchten ist, weil sie zu Anarchie führt?  Manchmal hätte ich auch gerne ein romantisches Plätzchen, das geht aber nur in einer Art gepflegter Wildnis. Wenn ich mit der Sense  das hohe dichte Gras mähe und das klebrige Labkraut ausreisse, dann habe ich immer den Eindruck, hinter mir schließen sich sofort die Schneisen. Alles wuchert seinen Geschicken entgegen, was ich aufreisse, macht hinter mir wieder zu und ich werde keineswegs als Fremdkörper betrachtet, sondern eingemeindet, es würde nicht lang dauern, dann wäre ich umwuchert.

Wild ist das Wilde nur da, wo es wild ist. Es gibt  Wesen, die sind tageslichttauglich, man hört und sieht sie. Aber es gibt auch welche, die huschen nachts durch den Garten und es gibt welche, die sieht man nicht, die existieren nur da, wo das Mondlicht silbern auf die Erde tropft. Es gibt kein Gut und Böse und keinen Sinn und Zweck, es gibt nur Einatmen und Ausatmen in meinem verwunschenen Garten.

Das Herz ist ein ganz besonderer Erdteil, alles ist richtig, auch das Gegenteil.

 

Auch die Kraulquappe hat was geschrieben