Archiv für den Tag: 12. Juni 2023

#7 Paradox

Jetzt habe ich das Buch von Ahmet Altan ausgelesen, ich habe es ausgeschlürft, Wort für Wort hat es meine Grundfeste erschüttert. Nein, keinerlei Schilderungen von blutiger Folter, keine äußeren Grausamkeiten. Das, was mir so nahe geht, daß es wehtut ist die Teilnahme, das Dabeizuschauen, wie der Schriftsteller den inneren Schmerz in Poesie verwandelt, um nicht von ihm getötet zu werden. Er weiß, daß er lebenslänglich in dieser Zelle sitzen muß. Und er reist in Gedanken durch Texte anderer, die er gelesen hat. Zenons Paradox kommt ihm in den Sinn:  „Ein Objekt  in Bewegung ist weder dort, wo es ist, noch dort, wo es nicht ist“ und er verwandelt es für sich: „…ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin.“ Und da passiert dieser Transfer, nur selten gibt es ihn … die Stimme des Schriftstellers wird zu meiner Stimme und spricht aus mir. Wir werden zu einer Sprache, wir sprechen uns aus der Seele.

Ich sitze hier, draußen höre ich Herrn Graugans, der mit zwei schmerzhaft kaputten Knien und mitten im stressigen Firmenalltags mühsam mit dem Kreiselmäher unter den Bäumen des buckligen Streuobstwiesenhangs das Gras bearbeitet. Der Pächter kommt demnächst mit dem acht Meter breiten Mähbalken und mäht die großen Flächen. Die Mähtermine des Pächters richten sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und werden, wenn überhaupt, einen Tag vorher bekanntgegeben. Wenn wir da unsere paar tausend qm zeitnah auch mähen, dann können wir es zu dem übrigen Gras dazu werfen. Wenn nicht, dann bleibt das Gras halt stehen. Also werden wir heute soviel wie möglich bearbeiten, so lang es Büroalltag und Schmerzen zulassen. Ich werde den Rechen nehmen und die Heugabel und das von uns Gemähte zum anderen hinüber- hinauf- hinunter transportieren. Und ich versuche, dabei nicht daran zu denken, was mir alles wehtut, sonst fang ich an zu weinen. Der Nachbar hat ähnliche Probleme. Er hat denselben Pächter, aber der Mähbalken vom kleinen Traktor, mit dem er seine Streuobstwiese zu diesen Anlässen bearbeitet, ist kaputt und er selbst ist auch sehr schlecht beisammen, denn die wochenlange Arbeit beim Hausbau seines Sohnes hat sein lädiertes Kreuz einsacken lassen.

Das neue Haus steht da und hat schon ein rotes Schindeldach bekommen. Es steht auf der Anhöhe und seine noch leeren Fensterhöhlen schauen auf das alte Bauernhaus herunter. Ob dessen Augen auch hinaufschauen, kann man durch die Scheibengardinen nicht erkennen. In den nächsten Tagen wird der gelbe Kran wieder verschwinden, der Himmel wird sich dann wieder selbst tragen müssen.

In München sind vier Konzerte mit Rammstein ausverkauft, es ist ja nichts Neues, daß man mit dem Badboy – Image viel Geld verdienen kann, hier funktioniert es auch prächtig seit Jahren und derzeit mehr denn je. Und ich habe bisher noch niemand sagen hören, daß ihr/ihm bei den Schweinereien der Texte schlecht geworden sei. Ganz im Gegenteil, viele Konzertbesucherinnen sprachen von Loyalität grade jetzt … ein äußerst gefährlicher Begriff, die Loyalität. Auch die vielgepriesene Toleranz ist mit größter Vorsicht zu genießen.

In Erding treibt eine, die sich Kabarettistin nennt, die Massen auf einem Platz zusammen und verspricht, daß es demnächst 10000 sein werden auf der Oktoberfestwiese. Die Leute wollen kein E-Auto sagt sie und sie wollen nicht gendern und weiteres unsägliches Zeug, auch der bayrische Gottvater samt seiner Assistenz gesellen sich dazu und dann schimpfen alle über die Grünen, denn die „wollen uns den Wohlstand nehmen“, wenns nach denen geht, müssen wir im Winter erfrieren.  Oje, alles sehr peinlich, wie ich finde, auch die AfD hat ihre Veranstaltung nebenan.

Es ist ganz schön brenzlig, wenn ich sage, daß ich eine überzeugte Grüne geworden bin und finde, daß die alle einen guten Job machen und ihnen dabei Fehler zugestehe, weil auch die Grünen Menschen sind. Erschreckend viele freundlich begonnene Gespräche enden dann abrupt wie gestern bei der Radlrunde, als ein paar Leute massiv über Habeck & Co geschimpft haben, weil der die Verarmung vorantreiben würde und man wüsste nicht mehr, wo man noch das Geld für die hohen Energiekosten nehmen sollte. Später sind sie dann am Berg, als ich mein Radl geschoben habe an mir vorbeigezogen: Papa, Mama, kleineres Kind 1, größeres Kind 2, alle mit teuerster Markenkleidung, Helmen, etc. ausstaffiert und alle, einschließlich kleines und größeres Kind auf E-Bikes der Luxusklasse.

„Ich bin weder, wo ich bin, noch, wo ich nicht bin.“ (Ahmed Altan)

 

Gruß an Frau Kraulquappe!