Archiv für den Tag: 9. September 2015

Menschenschwärme

Daß die toten Menschen im Lkw auf irgendeinem Parkplatz an der Autobahn erst entdeckt wurden, als sie sich bereits in stinkender Brühe aufzulösen begannen, die heruntertropfte, das hat mich in eine abgrundtiefe Traurigkeit versetzt und den kleinen Buben, der tot am Strand liegt, bringe ich nicht mehr aus dem Kopf. Wenn es stimmt, was im Talmud steht, daß, wer ein Menschenleben rettet, die ganze Welt rettet – dann stimmt auch der Umkehrschluß, dann geht die Welt bei jedem vergeudeten Leben unter.

In der Zeitung steht neben einem Spendenaufruf: „Jedes Kind ist ein Zeichen der Hoffnung für diese Welt.“ Ja, und der Kleine, der da im Sand liegt, ertrunken, weil es bei uns nicht möglich ist, legal ins Land zu kommen, der war wohl auch mal ein Zeichen der Hoffnung, und was ist er jetzt?

Der Kapitalismus und damit seine Eliten hätten abgewirtschaftet, schreibt der Philosoph Armen Avanesian in seiner „Kampfschrift“, einem blitzgescheiten Aufsatz zum gegenwärtigen Durcheinander der ins Land drängenden „Menschenschwärme“ und die verachtenden „Lösungsvorschläge“ für die „Flüchtlingsproblematik“.

Das Land ist reich, sehr reich sogar und alle haben Angst, der Reichtum könnte weniger werden und wir wären in irgendeiner Weise nicht mehr abgesichert. Und dann kommen da Hunderttausende und wollen uns alles wegnehmen. Was wir nicht gerne denken ist die Tatsache, daß Kapitalistische Wirtschaftssysteme weltweit nur funktionieren, wenn sie auf systematischer Ungerechtigkeit und Rassismus aufbauen und auf Ausbeutung angelegt sind, von liberaler Freiheit und Gleichstellung kann keine Rede sein. Und dies führt zweifellos irgendwann zu Abwanderung von denen, die grad am meisten darunter leiden. Höchstwahrscheinlich ist eh immer der der Mächtigste, der über den Transit herrscht. Und die Kriege, die in „diesen Ländern“ von den ganz Bösen angezettelt werden – deren Kriege sind immer auch unsere Kriege, das sollte mal in unser Denken einsickern.

Was tun? Momentan einfach alles, was wir können, um Symptome zu lindern, unterbringen, versorgen…aber das wird auf Dauer nicht reichen, daß wir Millionen von Menschen irgendwo in abgelegenen Asylantenheimen als Randproblem unserer Gesellschaft verstecken? Wird es zur radikalen Transformation unseres Wirtschaftssystems kommen wie Avanessian voraussieht, und „das Fass der postdemokratischen Ignoranz zum Überlaufen und uns alle gemeinsam einer Lösung näherbringen“?

Was weiß ich. Ich sehe im Fernsehen Bilder von Menschenmassen im Münchner Hauptbahnhof, die einen kommen übermüdet aus den Zügen und die anderen versuchen ihnen durch Aufstapeln von Stofftieren und Altkleidung zu vermitteln, daß wir durchaus geruhen, so gnädig zu sein, sie aufzunehmen, wenigstens so lang, bis geklärt ist, wer tatsächlich würdig ist, in diesem heiligen Lande weiterhin leben zu dürfen. Alle scheinen für einen Augenblick glücklich zu sein, am Münchner Hauptbahnhof. Ein kleiner Bub saust schnell von der Hand seines Vaters weg, schnappt sich von einem Plüschtierhaufen einen Teddybären, klemmt ihn unter seinen Arm und geht an der Hand seines Vaters weiter, einem Ausgang zu.

Im Aldi bewegen sich die Leute, die auf dem Parkplatz die teuren Automarken stehen haben, langsam in der Schlange vor dem begehrten Backautomaten vorwärts. „Bitte gedulden sie sich einen Moment, unser Produkt wird ofenfrisch für sie zubereitet!“ – sagt eine sehr freundliche Stimme aus dem Nichts.

Es fällt mir das Bild wieder ein, ein Foto, irgendwo in Syrien, ein Kind liegt mitten auf der Straße, es ist an einem Bauchschuß verblutet. Die Mutter hatte es losgeschickt, es sollte ein Brot holen vom Bäcker auf der anderen Seite.