Er reitet ein in Jerusalem, wie prophezeit auf einem Esel, besser gesagt auf einem Eselsfohlen, dem Jungen einer Eselin … „wie es geschrieben steht“. So beginnt die Passionsgeschichte, diese Parabel von Leben-im Tod-im Leben und jedes Mal wieder macht mich diese Vorstellung ärgerlich. Ich habe zu viele Eseln gesehen, geschundene und gequälte Kreaturen, so schwer mit Lasten beladen, daß sie die Knie nicht mehr ausstrecken konnten, und obendrauf ein prügelnder Mensch. Ja, der Gottessohn reitet ein auf dem Reittier der Armen, ein noch unberittenes Fohlen, wie hat er es zum Gehen gebracht, hat er es selbstverständlich geschlagen? Schwierig die Vorstellung, und wie immer hoffe ich für das Eselskind, daß der Erlöser der Welt ein ganz kleines, dürres Männlein gewesen ist und und ihm sanft ins Ohr geflüstert hat … glauben kann ich das nicht. Hosianna sollen sie gerufen haben … hilf uns! Hilf uns doch endlich raus aus diesem Schlamassel …
… und es beginnt der Anfang vom Ende … vom Anfang … die Dinge nehmen ihren Lauf.
Durch die Nacht fahre ich, über das Land unter dem Vollmondschein, durch leere Dörfer und Städte, im Radio die Übertragung einer Neuinszenierung der Oper „Der brennende Engel“ von Prokofiev. Dunkle, irritierende Klänge, durchbrochen von lautem Klopfen, Schlagen an Türen, Gesänge gehen durch Mark und Bein. Die Magie der Musik läßt mich schaudern. Die Handlung ist verwirrend, eine Frau verliebt sich in ihren Jugendtagen unglücklich in einen Engel, der verspricht, ihr eines Tages als Mann zu erscheinen. Sie sucht ihn ein Leben lang, diesen Geliebten, der wie sie bereit ist zur absoluten Liebe. Es ist eine Geschichte des Scheiterns, das Begehren einer zügellosen, wilden Frau, läßt der Erfinder der Geschichte in den Wahnsinn und zum Teufel führen und letztendlich beendet dann ein Mann das angeblich hexische Treiben und läßt sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Ein Rezensent sagt, da geht es halt um eine hysterische Frau, ja, so einfach ist das. Das alles erfahre ich erst später, die Musik ist von magischer dunkler Schönheit und geht mir unter die Haut.
Es gibt Geschichten, deren trauriges Ende man schon am Anfang spürt und man täte gut daran, auf die grausam ehrliche innere Instanz zu hören. Es tut mir weh, mich von Herzensfreundschaften zu verabschieden, auch wenn sie schon lang keine mehr sind. Es ist ganz leicht, in mein Herz hinein zu kommen, aber es dauert schmerzlich lange, bis ich jemand wieder hergebe. Ich habe kein Talent für lose Bekanntschaften, meine Lebenszeit wird knapper, ich verschenke sie gerne, am liebsten an Menschen, deren Zuneigung ich spüren kann. Das Leben ist ein immerwährender Prozess des Loslassens.
Ich liebe es, durch die Nacht zu gleiten, Wolken ziehen heran und umhüllen den Mond sanft mit dunklen Schleiern. Es sind fast keine Autos auf der schnurgeraden Straße durch das Tal. Früher war da eine ganz enge Kurve hinter dem alten Wirtshaus, Zistelreib hat sie geheißen und die, die zu schnell gefahren sind, flogen raus und sind dann an dem Baum mit den kleinen gelben Äpfeln gelandet. Ein kurzer Flashback … ich sehe mich als junges Mädchen bei Nebel in den leeren Schulbus steigen, der erste Kuß, grapschende Lenkradfinger, keine Zärtlichkeit, nur sabbernde Altmännergier. Abwehren, Weglaufen… ein Frösteln heute noch.
Die Kurve gibt es schon ewig nicht mehr, auch der Apfelbaum ist weg, das schöne alte Wirtshaus musste einem neuen Gebäude mit Toren, die sich auf Knopfdruck heben, weichen. Auf der Straße nachts kann man sehr schnell fahren, so schnell, daß auch der schnellste Hase zu langsam ist. Vor mir liegt er, er hat es nur bis in die Straßenmitte geschafft, dann kam er unter irgendwelche Räder. Ein kleines Bündel graubraunes Fell, ungut in sich zusammengerollt, in sich hineingestorben, ein Feldhase. Ich fahre um ihn herum, ich kann nicht aussteigen und nachsehen und ihn zur Seite legen, ich schäme mich dafür.
Du bist die Zukunft, großes Morgenrot
über den Ebenen der Ewigkeit.
Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid,
der fremde Mann, die Mutter und der Tod.
Rainer Maria Rilke