Archiv für den Tag: 9. März 2021

Rand des Universums

Der Bussard sitzt wieder auf dem Holzpfahl neben der Straße. Der alte Mann gestern auf dem Gehweg kommt mir in den Sinn, seine Füsse konnten dem vorauseilenden Kopf mit dem ernsten Vogelgesicht nicht mehr ganz folgen, waren unsicher im Tritt, schienen sich zu verhaspeln. Der Mantel hing über die gekrümmte Gestalt nach vorne, weit über die Knie. Kein Verweilen hat er sich gestattet, vorwärts getrieben hat es  den Mann … unter dem altmodischen schwarzen Hut dunkle kleine Augen, in die Ferne gerichtet.

Vor ca. einem Jahr habe ich einen Film gesehen: „Family Romance“, von Werner Herzog. Ein Film, der sich schon beim erstenmal Sehen in mein Dasein hineingefräst hat und daraus nie mehr verschwinden wird, weil es keine Trennlinie gibt zwischen den Wirklichkeiten, die eine läuft in die andere hinein und niemand weiß, wo man diese Bewegung aufhalten kann.

Es gibt in Tokio eine Firma mit Namen „Family Romance“, Yuichi Ishii heißt der Firmengründer und Besitzer. Von dieser Firma hat Werner Herzog erfahren und mit dem Besitzer einen Film über die Arbeit seiner Firma gedreht. Mit der Handkamera geht er herum und schaut zu. Die Firma vermietet Familienmitglieder, FreundInnen, Bekannte, gegen die Einsamkeit. Es gibt inzwischen über 3000 Beschäftigte, alles SchauspielerInnen, die Geschäfte mit der Romantik laufen bestens. Der Film ist eine Art Dokumentation, die sich schwer beschreiben läßt, weil man nie weiß, was echt ist und was Fake.

Es gibt keine direkte Handlung, die Kamera beobachtet Szenen zwischen Menschen, man sieht Beerdigungen, Überreichung von Preisen, eine Frau, die plötzlich auf der Straße von Forografen umringt ist und überall sind Schauspieler eingeschleust. Der Firmenchef verkörpert sich selbst, er wurde von der Mutter eines kleinen Mädchens engagiert, deren Mann verschwunden ist. In dessen Rolle schlüpft er als wiederauferstandener Vater. Man kann zuschauen, wie sie sich treffen und das Kind  immer zutraulicher wird. Sie treffen sich in einem Hotel und sehen den vielen bunten Fischen in großen Aquarien zu, erst nach und nach begreift man, daß es Roboterfische sind und dann sieht man die Gesichter des Personals und kann den Augen nicht mehr trauen…

Alles ist möglich und nichts ist mehr sicher, solange bezahlt wird. Verboten sind intime Berührungen und sexuelle Handlungen … dafür gibt es diverse andere Anlaufstellen … das einzige wirkliche Problem, das auftauchen kann ist, wenn jemand Gefühle entwickelt, so sagt der Firmenchef im Interview. Gefühle werfen alles durcheinander, dann muß abgebrochen werden. Seine Rolle als Vater wird schwierig, da das kleine Mädchen ihn immer mehr ins Herz schließt und deshalb rät er der Mutter, ihn doch einfach sterben zu lassen, sie möchte das aber nicht und zahlt weiter und das Mädchen trifft sich womöglich jahrelang mit seinem vorgegaukelten Vater.

Es ist ein eher unscheinbarer Film, manchmal etwas verwackelt durch die Handkamera, man sieht  viele gutgelaunte Menschen oder das ganz normale Leben in einer Großstadt, aber irgendwann kippt das Ganze und man befindet sich in einer moralischen Grauzone von Lüge, Schein, gekauftem Glück, ist es Fiktion oder Dokumentation und  wer könnte noch unterscheiden, wer wem was vorspielt. Am Schluß geht der Schauspieler nachhause und die Türe schließt sich. Man bleibt sehr alleine zurück mit der Frage, wer oder was ist das, was hinter der Milchglasscheibe auf ihn wartet.

Ein Film, der auf meine Fragen eingeht: wie leben wir eigentlich, was geben wir von uns preis, was suchen wir in der Phantomwelt des Großen Netzes … Vertrauen, Anerkennung, Beifall, Respekt, Beachtung, Freundschaft … welches Bild von uns zeigen wir, wie wirklich ist die Wirklichkeit …?

Wenn dieser Film die Wirklichkeit ist, dann ist seine Antwort extrem verstörend.

 

Oben in der Birkenkrone sitzt der Mond und der gemächlich vorbeischlendernde weiße Kater verdoppelt sich. Eng an sein schwarzes Pendent geschmiegt geht er mit ihm weiter in die Nacht hinaus …

Ich sitze auf der Hausbank, ein Lifekonzert wird übertragen … Clara Haberkamp Trio … wunderbar weicher, melodischer Jazz.