Schatten
Baum, Wolke, Wasser und Schatten
Im Wind, der sie floh und fing,
Reden vom Glück, das wir hatten,
Raunen vom Leid, das verging.
Leid, Wind und Wasser; und ging es?
Und kam es? Und wann? Und wie?
Und wär´s auch nur um Geringes:
Die Rechnung rundet sich nie.
(Rudolf Alexander Schröder, geb.1878)
Vor vielen Jahren kam Susanne nach angeblichem Suizidversuch auf die geschlossene Station, ich war ihre Betreuerin. Sie hatte schwarzgefärbte Haare, schwarz umrandete, gescheite Augen, war sehr blaß und sehr zart, sprach sehr leise und war 18 Jahre alt. Ich war kaum zehn Jahre älter als sie, schleppte ein paar Tragödien hinter mir her, war keineswegs so souverän, wie ich mich gab und mindestens so melancholisch wie sie. Wir mochten uns auf Anhieb. Jede freie Minute und halbe Nachtdienste saß ich an ihrem Bett. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was wir sprachen, irgendwann fing sie an, Gedichte zu rezitieren, einfach so, aus dem Gedächtnis. Durch ihren Mund hörte ich zum ersten Mal „Das Gewitter der Rosen“, Verse von Karl Krolow, Georg Trakl, Christine Busta, Gedichte von Christine Lavant, die mir durch Mark und Bein gingen…vieles habe ich vergessen, auch an sie selbst kann ich mich kaum erinnern, wahrscheinlich sah sie aus wie viele vor und nach ihr. Aber die Nähe zu ihr, die spüre ich noch heute, und sie hat mir ein Geschenk gemacht, durch das ich ein Leben lang ein wenig reicher wurde: ich war es ihr wert, daß sie vor mir ihre Schätze ausgebreitet hat und sie wird es nie geahnt haben, wie sie damit mich heilte…
So wie sie gekommen war, verschwand sie bald, nie mehr haben wir uns wieder gesehen. Ein paar Seiten, aus einem alten Schulheft herausgefallen, darauf hingekritzelt, schnell als Abschiedsgeschenk für mich…damit was bleibt von ihr?..ein wenig Poesie zum Überleben…“die Rechnung rundet sich nie“, aber , ein Leben lang schlepp ich sie mit mir herum, diese Zettel.
Nein, Susanne, ich werde Dich nie vergessen, Nie!
Das berührt mich sehr. Und zeigt so schön, was bleibt, wenn es um echte zwischenmenschliche Begegnung geht…
Wie schön für euch beide, diese erstaunliche Begegnung. Und danke, dass du mich daran erinnerst, dass es Gedichte gibt – vergesse ich manchmal.
Ja, das sind sie die unaufdringlichen Schlüsselerlebnisse, die einem selber manchmal erst Jahre später bewusst werden. Die „nie aufgehende rechnung“ hat mich auch soeben an einen fast „verschütteten Reim aus längst vergangenen Tagen erinnert:
„Lass das Hirn dir amputieren/Leg es ein in Wodka (pur)/Tag für Tag!/Wir balancieren – auf straff gespannter dünner Schnur….“ Frustrierte Resignation, die komischerweise Kraft gibt. Es ist ein Zitat aus „Gelbe Worte“ von einer Band, die sich „die anderen“ nannte und mal sehr wichtig war, damals in der DDR, während der endlosen Stagnation der 80er … und komischerweise passt das heute wieder oder immernoch.