Geld hatten wir nie, sondern Schulden, Streit, jede Menge Sorgen und einen Bücherschrank. Den Geruch beim Öffnen der Tür habe ich noch heute in der Nase. Es war mir verboten, in diesen Büchern zu lesen. Das sei nichts für Kinder, hatte es geheißen. Sie schienen Recht zu haben, denn obwohl ich sehr gut lesen konnte und hungrig war, blieben alle Versuche vergeblich, die Geschichten in den Büchern haben sich mir nicht erschlossen und standen mit ihren Geheimnissen im Schrank herum.
Ein Buch hätte ich so gerne gelesen, weil es meinen Eltern für kurze Zeit ein strahlendes Glück ins Gesicht gezaubert hat. „Von neun bis neun“, von Leo Perutz. Sie nahmen es sogar mit aufs Klo und meine Mutter stand an einem Werktag vorgebeugt am Eßtisch, hatte die ganze Arbeit ringsherum vergessen und las, verschlang, dieses Buch! Dann, als sie es endlich beide ausgelesen hatten, erzählten sie sich von ihren Erlebnissen, aufgeregt über den Inhalt aber vor allem über den Schluß des Buches. Nicht oft habe ich sie so glücklich gesehen, anscheinend, denn sonst wäre mir diese Begebenheit nicht seit annähernd 50 Jahren so deutlich in Erinnerung geblieben.
Vor allem die Mutter, lesend am Tisch stehend, auf die Ellbogen gestützt, versunken in einer anderen Welt. Daneben das Sofa, auf dem sie ein paar Jahre später tot daliegen wird.
Ja, natürlich habe ich dieses Buch ergründen wollen. Unzählige Male habe ich es gelesen, die Geschichte ist dermaßen verschachtelt und rätselhaft, sein Zauber kaum nachzuerzählen. Ein erfolgreicher Student, der viele Kapitel lang seine Hände unter dem Paletot versteckt hält…man muß da hineintauchen und sich ausliefern bis zu einem Schluß, der so genial wie verwirrend ist, daß ich ihn von Mal zu Mal vergesse! Meisterhaft erzählt, spannend und nervenaufreibend.
Ich hatte Leo Perutz lange Jahre vergessen, anscheinend die übrige Welt auch. Erst in den letzten Jahren ist er wohl wieder ins literarische Bewusstsein gelangt, Jorge Luis Borges verehrte ihn, merkwürdig, welchen Weg Geschichten manchmal nehmen!
Leo Perutz, geb. am 2. Nov. 1882 in Prag, am 25. Aug. 1957 gest. in Bad Ischl.
Nach der Lektüre von : „Der schwedische Reiter“ u. „Der Meister des Jüngsten Tages“ hat er mich so in seinen Erzählbann gezogen, daß ich alles lesen werde, was ich kriegen kann, der nächste Roman wird sein: „Wohin rollst du, Äpfelchen…“ Sein Schreibstil wird manchmal als Phantastischer Realismus bezeichnet, Borges hat ihn auf seine Liste der besten Kriminalautoren gesetzt, Traumdeutung Freud könnte einfließen, was weiß ich alles…die Geschichten sind merkwürdig, rätselhaft. Man hat es nicht leicht beim Lesen, wird in Irrgärten herumgeführt und wenn man endlich weiß, wo der Ausgang ist, dann gibt es völlig unerwartete Wendungen und wenn es das Nachwort ist, das alles bisher Vermutete völlig in Frage stellt.
Und diese Sprache, für mich klingt sie nach Prag, Wien, Karlsbad und alles dazwischen und nach verschwundener Familie, verblassten Bildern und viel Theater und nichts wirklich und doch …Erinnerung…an was? Heimat?