T.4 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

EINSFÜNFUNDVIERZIG

Werkskantine VEB Mineralölwerke Lützkendorf. 1978.
Zwei männliche 11.klässler setzen sich an einen Tisch, an dem schon zwei 12.klässlerinnen sitzen. Die eine hat die „Sheer Heart Attack“ von Queen! Da muss man sich mal kümmern. Von der anderen wissen beide nichts; außer, dass sie die Freundin jener Queenplattentante ist. Sie ist klein und blond; trägt die Haare als halblangen, extrem aufgeplusterten Wuschelkopf. Vermutlich sollte der ihre einsfünfundvierzig vergrößern, erzeugte jedoch eher ein auffallendes Missverhältnis zwischen Kopf und Körper, weshalb man sie eben eher übersah. Bisher!
Der eine 11er smalltalkte sich an die Queenplatte heran. Die andern beiden aßen mehr oder weniger schweigend; streuten hie und da mal einen Zufallssatz ein.
Irgendwann schoß so ein gewitzter Blick unter dem blonden Wuschelpony vor. Der war für den Smalltalker bestimmt, (klar, der bekam sie alle! Warum auch immer!) wurde aber nur von dessen Beisitzer bemerkt – und traf diesen, ohne, dass es ihm richtig klar wurde – ins Herz.
Denn: Einsfünfundvierzig! Wie soll das gehen? Hinknien zum Küssen? Oder steigt sie auf nen Stuhl? Und dann diese Frisur von ihr! Da lachen nicht nur die Hühner. Würde man sich mit ihr sehen lassen können? Aber andererseits dieser Blickblitz! Sowas kann die öfters! Und wenn diese Blitze erst für ihn bestimmt wären! Das Grübelwerk routierte los…
Die Teller waren leer. Die 4 standen auf, brachten sie weg, wobei der stille Beobachter insgeheim die Größenverhältnisse checkte. Hach, sie war wirklich verdammt klein. Verfluchte einsfünfundvierzig etwa. Suzi Quatro soll einsdreiundfünfzig sein und die is’schon lütt!
Die 4 gingen brav zum Bus, der sie alle zurück zur Schule brachte. Die Betriebsbesichtigung war zuende. Wenige Tage später gab es die „Sheer Heart Attack“ zum Aufnehmen. Der Schulcasanova hatte es wiedermal geschafft. Er stand noch ein paar Mal mit der Spenderin auf dem Schulhof beieinander; sein Lützkendorfbegleiter stand woanders in einer Traube und spähte aus nach einsfünfundvierzig.
Mehr war nicht. Kein Name. Kein Date. Keine Romanze.

Zwei Jahre später steigt ein Student aus dem Zug in seiner Heimatstadt und zwei Waggontüren weiter vorn sie – einsfünfundvierzig. Immernoch. Nicht gewachsen. Dieselbe Frisur. Leichtes Gepäck. Er holt sie mit zwei Schritten ein.
„Hallo.“
Da! Der Blitz! Diesmal war er gemeint. Oder bildet er sich’s nur ein? Ist es mehr als eine Mutmaßung?
Sie redeten über dies und das. Nach ein paar hundert Metern durch die Bahnhofsstraße bog sie links ab.
„Tschüs.“
„Tschüssi.“
Er sah ihr noch nach. Nur ein-zwei Sekunden. Aber die Szene brannte sich ihm ein.
Ach was. Einsfünfundvierzig! Pah. Er hatte sich ja gerade erst verlobt. Er sah auf den Ring an seinem Finger. Zwei Jahre später wechselte dieser die Hand. Zwei weitere Jahre später wanderte er in die Schreibtischschublade.

Nach der Silberhochzeit sitzt der Schweiger vor dem Fernseher und hört dem alten Kabarettisten Werner Schneyder zu, der gerade erzählt, wie er seine Frau fand:
„Ich sah sie im Park und sprach sie sofort an.“
„Warum?“
„Weil ich in dieser Sekunde wusste: Wenn du das jetzt nicht tust, siehst du sie nie wieder! Und es wurde mein Glück!“
Der Fernsehzuschauer da schaut hinüber zu seiner Frau im anderen Sessel, lauschte in sich und in seinem Kopf dröhnte ein Satz von Klaus Renft: „Leid tun dir später nur die Dinge, die du nicht probiert hast.“
Ein paar Gehirnwindungen tiefer drin bringt sich ein Song von STS in Erinnerung: „Wenn was gewesen wär…“, … sein Kopf ging wieder Richtung Bildschirm, aber er sah nicht hin. Er sah: Einsfünfundvierzig. Ein paar Sekunden lang. Bis die Erinnerung für diesmal wieder zerstob.


Wo immer du jetzt bist, ich wünsch dir Glück.
Bludgeon

Vielen Dank, lieber Bludgeon!

4 Gedanken zu „T.4 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

  1. Weißt Du was, Bludgy? Das ist wieder einer Deiner Wundertexte…so bittersüß und so voller Herz, daß ich feuchte Augen kriege…und ich höre gerade die Sheer Heart Attack…unglaublich, reißt mich immer noch total vom Hocker und ich heule immer noch bei „Lily of the Valley“, einem der schönsten Lieder aller Zeiten!
    Viele liebe Grüsse bis hoffentlich demnächst!

    1. Danke, danke liebe Graugans. Mein Favorit auf der Platte ist „Now I’m here“. Mit den Jahren hat bei mir die Queenbegeisterung etwas nachgelassen. Naja… s gab halt genug anderes.

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