Rand des Universums

Der Bussard sitzt wieder auf dem Holzpfahl neben der Straße. Der alte Mann gestern auf dem Gehweg kommt mir in den Sinn, seine Füsse konnten dem vorauseilenden Kopf mit dem ernsten Vogelgesicht nicht mehr ganz folgen, waren unsicher im Tritt, schienen sich zu verhaspeln. Der Mantel hing über die gekrümmte Gestalt nach vorne, weit über die Knie. Kein Verweilen hat er sich gestattet, vorwärts getrieben hat es  den Mann … unter dem altmodischen schwarzen Hut dunkle kleine Augen, in die Ferne gerichtet.

Vor ca. einem Jahr habe ich einen Film gesehen: „Family Romance“, von Werner Herzog. Ein Film, der sich schon beim erstenmal Sehen in mein Dasein hineingefräst hat und daraus nie mehr verschwinden wird, weil es keine Trennlinie gibt zwischen den Wirklichkeiten, die eine läuft in die andere hinein und niemand weiß, wo man diese Bewegung aufhalten kann.

Es gibt in Tokio eine Firma mit Namen „Family Romance“, Yuichi Ishii heißt der Firmengründer und Besitzer. Von dieser Firma hat Werner Herzog erfahren und mit dem Besitzer einen Film über die Arbeit seiner Firma gedreht. Mit der Handkamera geht er herum und schaut zu. Die Firma vermietet Familienmitglieder, FreundInnen, Bekannte, gegen die Einsamkeit. Es gibt inzwischen über 3000 Beschäftigte, alles SchauspielerInnen, die Geschäfte mit der Romantik laufen bestens. Der Film ist eine Art Dokumentation, die sich schwer beschreiben läßt, weil man nie weiß, was echt ist und was Fake.

Es gibt keine direkte Handlung, die Kamera beobachtet Szenen zwischen Menschen, man sieht Beerdigungen, Überreichung von Preisen, eine Frau, die plötzlich auf der Straße von Forografen umringt ist und überall sind Schauspieler eingeschleust. Der Firmenchef verkörpert sich selbst, er wurde von der Mutter eines kleinen Mädchens engagiert, deren Mann verschwunden ist. In dessen Rolle schlüpft er als wiederauferstandener Vater. Man kann zuschauen, wie sie sich treffen und das Kind  immer zutraulicher wird. Sie treffen sich in einem Hotel und sehen den vielen bunten Fischen in großen Aquarien zu, erst nach und nach begreift man, daß es Roboterfische sind und dann sieht man die Gesichter des Personals und kann den Augen nicht mehr trauen…

Alles ist möglich und nichts ist mehr sicher, solange bezahlt wird. Verboten sind intime Berührungen und sexuelle Handlungen … dafür gibt es diverse andere Anlaufstellen … das einzige wirkliche Problem, das auftauchen kann ist, wenn jemand Gefühle entwickelt, so sagt der Firmenchef im Interview. Gefühle werfen alles durcheinander, dann muß abgebrochen werden. Seine Rolle als Vater wird schwierig, da das kleine Mädchen ihn immer mehr ins Herz schließt und deshalb rät er der Mutter, ihn doch einfach sterben zu lassen, sie möchte das aber nicht und zahlt weiter und das Mädchen trifft sich womöglich jahrelang mit seinem vorgegaukelten Vater.

Es ist ein eher unscheinbarer Film, manchmal etwas verwackelt durch die Handkamera, man sieht  viele gutgelaunte Menschen oder das ganz normale Leben in einer Großstadt, aber irgendwann kippt das Ganze und man befindet sich in einer moralischen Grauzone von Lüge, Schein, gekauftem Glück, ist es Fiktion oder Dokumentation und  wer könnte noch unterscheiden, wer wem was vorspielt. Am Schluß geht der Schauspieler nachhause und die Türe schließt sich. Man bleibt sehr alleine zurück mit der Frage, wer oder was ist das, was hinter der Milchglasscheibe auf ihn wartet.

Ein Film, der auf meine Fragen eingeht: wie leben wir eigentlich, was geben wir von uns preis, was suchen wir in der Phantomwelt des Großen Netzes … Vertrauen, Anerkennung, Beifall, Respekt, Beachtung, Freundschaft … welches Bild von uns zeigen wir, wie wirklich ist die Wirklichkeit …?

Wenn dieser Film die Wirklichkeit ist, dann ist seine Antwort extrem verstörend.

 

Oben in der Birkenkrone sitzt der Mond und der gemächlich vorbeischlendernde weiße Kater verdoppelt sich. Eng an sein schwarzes Pendent geschmiegt geht er mit ihm weiter in die Nacht hinaus …

Ich sitze auf der Hausbank, ein Lifekonzert wird übertragen … Clara Haberkamp Trio … wunderbar weicher, melodischer Jazz.

 

 

8 Gedanken zu „Rand des Universums

  1. Der Werner Herzog dreht seit Jahren schon fast ausschließlich Dokumentarfilme. Manche davon sind absolut sehenswert.
    Mein Favourit ist „Jag Mandir“ über ein Projekt von André Heller.

    Schönen Dank für den Hinweis auf „Family Romance“.

  2. Das klingt spannend. Es ist einerseits sehr beunruhigend und traurig. Andererseits sollte man sich öfter fragen was eigentlich echt ist an anderen und einem selbst. Meistens geschieht das nur in Krisen. Zerbricht eine Beziehung fragt man sich auch was Illusion und was Realität war. Falls es da einen Unterschied gibt.

  3. Na da sind wir ja wiedermal erstaunlich parallel unterwegs.
    Das „Watertown“ Thema ist ebenfalls Einsamkeit und „Scheinerlösung“.

    „Family romance“ – also die Prostitution von familiärer Nestwärme. Was ne ausgebuffte Scheiße! Mir reicht schon der Bericht. Angucken muss ich mir das nicht.

    Aber genau dahin geht die Reise in dieser neoliberal globalisierten Welt, in der du ach so toll heute hier und morgen da leben kannst und angeblich „alle“ mal zum Shoppen nach New York fliegen. Und viele viele glauben den Quark.
    Gekappte Wurzeln – drei oder vier mal neuansiedeln, mit „Freunden“ small talken, von denen du entweder nur den Vor- oder Nachnamen weißt – und beim nächsten Umzug sind sie eh wieder passé, denn da warten ja immer so viele neue Bekanntschaften auf dich… ach ich hör schon auf.

    Nach Japan wollte ich eh noch nie.

    1. Ja, versteh ich, ich würde auch niemand raten, den Film anzuschauen. Mir geht er nicht deshalb unter die Haut, weil in Japan so schlimme Zustände sind, sondern, weil mir durch diesen Film extrem deutlich gespiegelt wird, wo wir uns hier bereits befinden … was und wer alles bei uns „gemietet“ werden kann, von den Hostessen zur abendlichen Begleitung der Businessheren über die Callboys zur sexuellen Beglückung einsamer Frauen (funktioniert aber nicht sehr gut, Callboys können kaum davon leben) , Mietomas- und opas sind auch schon lange im Einsatz … also, mir fällt so Manches auf, was ich vor dem Film noch gar nicht so bemerkt habe … dank dir für Deinen Kommentar!

  4. Diese Japaner.innen, seufze ich. Es kamen schon einige sehr seltsame Nachrichten aus diesem Land bei mir an. Vorstellen kann ich mir das Ganze, aber ich merke gleichzeitig, dass mein Leben so anders verläuft, noch so in Echtzeit – und das meiner Familie und Freund.innen/Bekannten auch, da lese ich solcherlei fast als SiFi und doch ist es fast nebenan.
    Danke für den Tipp, ich werde mal Ausschau halten.
    Und wieso ich immer erst Wochen später deine Beiträge finde, erschließt sich mir auch nicht 😉
    Herzliche Abendgrüße
    Ulli

    1. Liebe Ulli, grad hab ich es beim vorherigen Kommentar gesagt … mir fällt erschreckend viel auf bei uns, was schon sehr in die Richtung des Films geht, noch nie war mir der Begriff „Fake“ so präsent! Gruß!

  5. Die oft hintergründigen Dokumentarfilme von Herzog treffen nicht gerade unseren Geschmack, aber dieser Film hört sich sehenswert an. Danke für die Vorstellung.
    Wir finden die japanische Kultur interessant, wenn auch oder weil bisweilen sehr rätselhaft.
    Mit herzlichen Grüßen vom sonnigen Meer
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

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