Im Weg …

Es ist schon finster, als ich durch den Wald zum Dorffriedhof radle, um die Blumen am Grab zu gießen. Vor über fünfzig Jahren, welchen Weg hat sie eingeschlagen damals, auf ihrem grünen Damenfahrrad, das ihr mein Vater geschenkt hatte? Sie muß in der Nacht losgefahren sein, denn am Morgen war sie nicht mehr da. Noch heute träume ich manchmal davon und werde wach mit Herzklopfen, von trockenem Schluchzen und Entsetzen geschüttelt, mit der gleichen Angst wie damals, als sie verschwand.

Die Schwanenjungfrau im Märchen wird von einem Mann eingefangen, und ihr Federkleid kommt an einen geheimen Ort, hinter Schloß und Riegel in eine Truhe. Als sie nicht mehr wegfliegen kann, ergibt sie sich, läßt ihre Wildnatur zähmen, wird eine brave Ehefrau, eine  treusorgende Hausfrau und liebevolle Mutter …

… manchmal kommt sie zur Morgendämmerung aus dem Wald zurück und bringt eine Schürze voller Pilze mit. Sie ist unglücklich und keiner merkt es, denn sie ist gut gelaunt, erzählt alte Theatergeschichten und sie hat dieses glucksende, ansteckende Lachen. Sie kann über alles lachen, auch über sich selbst. Sie kommt aus einer anderen Welt, sie passt nicht hierher und sie kann die Anforderungen an sie nicht erfüllen …  Sehnsucht bleibt.

Eines Tages findet sie den Schlüssel zur Truhe und fliegt weg.

Eine Art, die Geschichte weiterzuerzählen ist, daß die Schwanenfrau eine Zeitlang nachts kommt, um ihr Kind zu versorgen und zu trösten … eine weitere Variante wäre, daß der Mann sich auf den Weg macht, seine Frau zu suchen, und sie nach vielen Abenteuern auch findet, den wilden Zauber von ihr nimmt und sie heimholt und dann leben alle glücklich bis an ihr seliges Ende.

In unserer Variante hat sie der Vater auch gefunden, ziemlich weit oben in den Berchtesgadener Bergen, er hat sie lachend und scherzend bei der Heuarbeit  angetroffen, bei Bekannten mit einem Bauernhof am ziemlich wilden und verwahrlosten Rande der Zivilisation. Er hat sie mitsamt ihrem grünen Rad in den VW Bus gepackt und wieder heimgebracht.

Ein, zwei Jahre später ist sie gestorben, meine notdürftig domestizierte wilde Mama.

Nie hat sie mit mir gesprochen über ihr Verschwinden und im Nachhinein erscheint mir ihr Tod nur als die letzte Konsequenz ihres damals eingeschlagenen Weges …Mir ist heute, als hätte ich sie damals unwiederbringlich verloren und womöglich suche ich sie schon mein Leben lang, wer weiß das schon so genau. Ein lieber Freund sagt mir, mein Lachen sei unwiderstehlich und ich täte immer so fröhlich glucksen dabei … ich achte  darauf und auf einmal höre ich sie in mir lachen … sie lacht durch mich hindurch.

Ich plane eine Reise, dahin, wo sie herkommt und verjagt wurde, ich werde keine Spuren finden können, trotzdem werde ich hinfahren an diese verlorenen Orte in Böhmen, in die Vergangenheit, oder in eine Parallelwelt zwischen den Steinen und in den Schatten der Gräser, auf die Strassen und in die Augen der Menschen … irgendwo dort wird irgendwann durch eine Laune der Geschichte eine junge Frau auf einen Weg ins Unbekannte geschickt, sie folgt ihm, notgedrungen, und dann, als sich ihr Weg irgendwo im Süden mit einem Fremden kreuzt, entstehe ich. Und ich bin unsicher, was mich erwartet, wonach soll ich denn suchen, alle Wege führen in dunkle Vergangenheiten, Namen verhallen im Nichts, die Geschichte meiner Mutter , ihrer und somit meiner Familie … lauter lose Enden wehen im Wind … eine leise Wehmut schlängelt sich durch mein Herz und mir ist, als wäre meine Sehnsucht auch ihre gewesen … Spürungen schleichen sich an, Angst vor der großen Verlorenheit … was kann ich denn finden, wenn ich nicht mal weiß, wonach ich suche?

Ein freundlicher Reisender kommt vorbei und macht Rast auf halber Wegstrecke im alten Haus. Zwischen zwei Flügelschlägen sitzen wir am Stubentisch und unsere Geschichten setzen sich lächelnd dazu, stellen Fragen und geben Antwort. „Geh einfach los, und Du wirst sehen, es ist ganz egal, welchen Weg Du nimmst, jeder ist richtig!“ Ich höre es und schaue in kluge und sanftmütige Augen … Als wir uns verabschiedet haben, durchziehen noch lange unsere Stimmen und das gemeinsame Lachen das Haus, eine Art Vertrautheit, die entsteht, wenn aus Fremden Freunde werden …

Ja, ich werde einfach losgehen und abwarten, was passiert.

Hab Dank, lieber Zeilentiger!

Der alte Kirschbaum hat soviele Früchte, daß ihm ein Ast abgebrochen ist.
Aus den Kakteen quellen unzählbar viele Knospen und schicken sich zum Blühen an
und ich habe endlich herausgefunden, wo der Tatzelwurm (die bayrische Variante des Drachen) hausen soll: in der Gumpe unterhalb des Wasserfalls nämlich, dies gilt es demnächst, genauer zu erforschen.

 

 

 

23 Gedanken zu „Im Weg …

  1. Es ist doch gut, unterwegs zu sein. Irgendeiner hatte vor Urzeiten mal behauptet, der Weg sei das Ziel.
    Umso weniger man erwartet, desto mehr efährt und erhält man auf Reisen. Dies jedenfalls ist meine Erfahrung.
    Und dann die unsichtbaren Begleiter: „…wohin sind die Tage Tobiae, da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür, zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar…“ (R.M. Rilke 2. Duineser Elegie)

    Vorsommerlichabendschöne Grüsse,
    Herr Ärmel

    1. Mensch Herr Ärmel, jetzt haben Sie mir doch tatsächlich diese wundervollen Worte, nach denen wir mal so gesucht haben, wissen Sie noch, ein zweites Mal geschenkt! Herzlichen Dank … ein wenig verschämt sehe ich, daß sie aus den D. Elegien von Rilke stammen, ich dachte, es sei ein Psalm …
      Viele liebe Grüße vom schönen Hier zum schönen Dort schicke
      ich Ihnen!

  2. Ambivalenz, ja.
    Zorn auf die Mutter, und zwar unverzeihlich. Auf der andern Seite große Bewunderung dafür, dass da eine ihren höchst eigenen Herzensweg suchte…
    Gruß von Sonja

    1. Verzeihen inzwischen nahezu möglich, aber der Schmerz kommt immer mal wieder, ja, auch der Zorn…anders gehts nicht, gehört wohl alles zusammen, auch die große Liebe und langsam langsam wage ich mich daran , zu begreifen, wie alles zusammenhängt …
      Sei lieb gegrüßt

  3. Fast zwischen heute und morgen las ich deinen Text. Bin in Gedanken oft bei dir, auch wenn ich still bin. Den Weg an die alten Orte der Mutter wirst du wohl gehen müssen, um deine inneren Orte zu finden. Und der Tatzlwurm… eine andere Geschichte, aber auch wichtig…. gute Reise und glückliches Finden!

    1. Herzlichen Dank liebe Uta, die Reise nach Tschechien beginnt erst am 23. Juli, bis dahin gibts noch viel zu tun, vor allem in alten Papieren zu kramen und vom verbliebenen Rest der Familie Erkundungen einzuholen…

  4. Es wird sicher eine aufregende Reise in das Land meiner Urväter und ich kann mich den anderen hier nur anschließen und eine gute Reise wünschen. Irgendwo wirst du sicher die Gefühle der Vergangenheit entdecken und hoffentlich etwas Tröstliches in ihnen finden.

    1. Oh, lieber Arno, Du bist also böhmischer Abstammung?
      Ich fahre am 23. Juli los, Karlsbad, Teplitz-Schönau, Mariaschein und drumherum, werde darüber berichten, auch um mir selber zu erzählen welche Wege ich gegangen bin, außen und innen…
      Deine Geschichten würden mich sehr interessieren, vor allem, was sie mit Dir tun, schweigen sie oder erzählen die sich fort und fort? Liebe Grüße

      1. Ursprünglich stammt meine Familie aus den Regionen Pommern und Böhmen. Das war so um 1279, kurz nachdem der Landstrich Pommern den Namen erhielt. Im Laufe der Jahrhunderte, Kriege und Herrschaftswechsel sind wir immer weiter nach Westen gezogen oder gedrängt worden, haben aber niemals den deutschen Boden verlassen. Ich finde diese Landschaften in Osteuropa faszinierend und werde sicher einmal dorthin reisen, auf der Suche nach alten Überresten unserer Landgüter, falls da noch welche existieren. Bis dahin freue ich mich schon sehr auf deine Reiseeindrücke!

        1. Ach lieber Arno, das ist ja so ziemlich das Schönste, was mir passieren kann, daß jemand sich freut auf das, was ich zu berichten habe, davon träumen wir Dich alle, nicht wahr?
          Ich dank Dir für Dein Interesse, Du wirst sicher von mir hören!
          Viele liebe Grüße

          1. Eine zauberhafte Eigenmächtigkeit ! Mein Handy hat sich erlaubt, aus dem ursprünglich vorgesehenen „doch“ ein „Dich“ zu machen!

  5. Griaßdi, lieber Gestreifter, grad hat sich über unseren Hügeln die Sonne durch die Regenwolken gebohrt, werd sie gleich weiterleiten zu Deinen Hügeln!
    Neueste Forschungsergebnisse zu Tatzelwurm werden sebstverständlich mitgeteilt, sobald vorhanden!!
    Liebe Grüße

  6. Lass dir bloß nicht das Wilde nehmen, Frau Graugans!
    Vor einigen Jahren trieb ich mich in Gegenden meiner Ahnen herum. Schneekoppe und graue Industrieschlotereien. In Tälern bei Hirschberg sieht es jetzt wohl besser aus. Verwachsene, fast überwucherte Friedhöfe sah ich und verschlossene Gesichter und Straßen wie Bachbetten und das Gerhard-Hauptmann-Haus und…
    Gute Reisevorbereitungen – irgendwie willst du wohl GANZ werden, Frau …gans!

    1. Weißt Du was, alle Versuche, mir das Wilde auszutreiben, sind bisher kläglich gescheitert … und mit dem Ganzwerden, ja, da hast Du wohl gans recht, liebe Frau Gans, ich werde mich mal umsehen und hier und da ein wenig sitzenbleiben und schwarzes Bier trinken und abwarten, was geschieht.

      Sei gegrüßt!

  7. Was wirst du finden auf deinem Weg? Es wird etwas anderes sein, es wird anders sein, aber es wird gut sein, da bin ich mir sicher (warum auch immer noch)

    ich habe mich in dein Bild verguckt und habe Sehnsucht nach meinen Worten, wo sind sie nur hin?

    Danke auch für deine Post!
    hrzliche Grüße
    Ulli

    1. Die schöne Wegwarte kommt zu Besuch und bringt Freude mit, wie wunderschön!
      Sei mir immer herzlich willkommen, liebe Gabriele!

      Liebe Grüße

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