Schattenspiel

Das Buch „Unruhestifter“ von Fritz J. Raddatz jetzt ausgelesen.

Ein ganzes Leben vor mir ausgebreitet, begehbar wie ein Labyrinth aus Steinen, gelegt an irgendeinem Strand, der mir unbekannt ist, vielleicht auf Sylt, auf „seinem“ Sylt,  das Meer spür- und hörbar, der Wind fährt mir in die Haare, über mir und durch mich hindurch kreisen klagende Möwen, das große Wasser ist wie es immer ist, es rollt vorwärts und rückwärts und manchmal scheint es stillzustehen.

Und so betrete ich das Labyrinth, von dem es heißt: „Auf die Mitte weise den Umherirrenden hin“! Ich begegne den Großen der Literatur, erlebe das, was auch meine Existenz maßgeblich beeinflusst: die Liebe zum geschriebenen Wort. Verirre mich in Ränkeschmieden, Konkurrenzgebaren, politischen Verstrickungen, einer geht mit auf diesem Weg, ein Schatten unter Schatten, brillianter Literat, voller Leidenschaft an der Rede, schnell, schnell, wir rasen, nach allen Seiten befreundet, nach allen Seiten verfeindet, zu tiefer Liebe fähig und doch überall Unruhe stiftend, große Erfolge, vielen Hilfe gebend und mit Häme überschüttet…weiter, weiter, rasend schnell…fast schon hinein in die Erlösung versprechende Mitte, da müssen wir nochmal ganz hinaus an den Rand, ein paar mal wieder von Vorne beginnen, so sieht es aus…wieder weiter und weiter durch tiefe Freundschaften, Gespräche, in die einer sein ganzes Sein werfen kann, in denen es Antworten gibt obwohl im Kopf sich noch gar keine Fragen herausgebildet hatten…Zeit, viel Zeit für Freundschaften inmitten von permanenter Zeitlosigkeit, in der Lebenshetze Inseln, Schlösser der Glückseligkeiten, wunderbare Abendessen, wunderbare Gespräche immer wieder. Ich traue mich nicht, nachzusinnen, wie lange es wohl her ist, daß sich wer für meine innersten Gefühle, meine Gedanken zum Lauf der Welt, wann mich überhaupt mal wer fragt, was ich über irgendwas denke…aus reinstem Interesse und mit der verfügbaren Zeit, abwarten zu können, bis ich es ausformuliert habe und – den Ball auch zurückzuwerfen? Nein, nicht nachdenken, weitergehen durch fremde Freundschaften, große Karriere im Literaturbetrieb, Begegnungen mit Augstein, Grass, Ledig-Rowolt, Tucholsky usw. usw. viel lesen, viel schreiben, viel sprechen –  mit dem vorauseilenden Schatten…

Endlich – die Mitte! Dort , in den Sand gekratzt ein Satz von Fernando Pessoa, er nennt sich ein „Buchwesen“ und sagt vom „gelesenen Leben“:

„Was ich fühle, wird, ohne daß ich das wollte, gefühlt, damit aufgeschrieben werden kann, daß es gefühlt worden ist. Was ich denke, steht sogleich in Worten da, untermischt mit Bildern, die es zerstören, ausgebreitet in Rhythmen, die etwas anderes sind. Über der Mühsal, mich selber wieder zusammenzusetzen, habe ich mich zerstört.“

Was kann nach der Mitte noch kommen? Der Weg geht da wieder hinaus, wo wir hereingekommen sind. Sind wir durch ein Buch gegangen oder durch ein Leben? Tagebücher hat er noch hinterlassen, erst als diese Arbeit beendet war, sagte er öffentlich, sein Leben sei jetzt „ausgeschritten“, das haben doch alle gehört, wo waren die Freunde, die Lieben seines Lebens, warum zog ihn denn niemand vom Abgrund weg, so wie er es unzählige Male bei anderen gemacht hat? Wie wenig wissen wir voneinander, wie wenig können wir tun, um einen davor zu bewahren, daß er in die Schweiz fahren muß, um dort den Schierlingsbecher zu trinken? Wie wenig. Ich meine, schon in diesen Erinnerungen, die er ja vor über zehn Jahren schrieb, zwischen den Zeilen eine Traurigkeit zu spüren, so wie ein kühler Hauch an einem lauen Abend…ein wenig hat es mich da und dort gefröstelt in der Schilderung dieses übervollen Lebens…

Das Labyrinth ist wieder geschlossen, der Schatten bleibt kurz stehen und scheint mir zum Abschied zuzuwinken, bevor er im Meer verschwindet.

Seien Sie gegrüßt, Fritz J. Raddatz, wo immer Sie jetzt sind, es war mir eine Ehre, mit Ihnen durchs Labyrinth zu schreiten!

„Der Mensch, den Schatten schon erregen, empfindet immerfort als Last, daß seiner Unrast er erlegen“. Paul Wunderlich übergab dieses Zitat von Baudelaire seinem Freund, weil er ihn erkannte.

 

 

3 Gedanken zu „Schattenspiel

  1. Herzlichen Dank für Dein Lebenszeichen lieber Herbert, irgendwie weht mir da von dir so ein klein wenig vertraute menschliche Nähe, sowas wie Verbindung im Geiste entgegen – sehr angenehm, durch die virtuellen Scheinwelten hindurch…es ist immer schön, wenn einer das gleiche Buch gelesen hat und ähnliche Empfindungen hatte! Liebe Grüsse

  2. Nein, liebe Graugans, dieses von Dir so schön beschriebene Buch habe ich (noch) nicht gelesen. Bald beginne ich eines, das eventuell ähnliche Seiten und Schilderungen von Ereignissen haben wird: Tumult – von Hans Magnus Enzensberger.
    Mal sehen!
    Gruß von Sonja

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