Die Sternenseite

Als ihm die Kerze trotz dicker Batzen Heißkleber auf den Händen ständig umgefallen ist, hat man sie ihm weggenommen. Die dünnen, langen Arme hält er starr nach vorne ausgestreckt, einer davon ist ein wenig länger als der andere. Seine leeren kleinen Kinderhände stecken in  Fäustlingen,  gegen die Kälte. Die Proportionen seiner Gestalt sind außergewöhnlich, ein kurzer Oberkörper geht über in ein langes Untergestell, er scheint extrem lange Beine zu haben, die sieht man aber nicht, denn  alles wird verborgen von einem bodenlangen  Gewand. Es ist weiß und hat ganz zarte, himmelblaue Tupfen, auf der einen Seite sind da auch noch viele große und bunte Sterne. Auf dem Rücken ist ihm ein Flügel herausgewachsen, so blau wie der Himmel an einem Sommertag. Seine sehr blonden leicht gewellten Haare trägt er als eine Art Pagenkopf, er hat sehr rote Backen und einen dunklen, etwas stechenden Blick.

Eins seiner Geheimnisse ist, daß man ihn nur von der Seite sieht, eigentlich von zwei Seiten, im Profil. Auf der einen Seite, der mit den Sternen, da scheint er ein wenig fröhlicher und redseliger zu sein, er hat den Mund offen, um was zu sagen …

Auf der anderen Seite schaut er so, als wäre er ziemlich genervt, die blonden Haare streng nach hinten gekämmt, und täte grad loslegen, um seine Meinung zu sagen, der Flügel ist aber auch auf dieser Seite himmelblau. Die Arme hat er entweder nach links oder nach rechts ausgestreckt, wohin er genau schaut, ist nicht feststellbar, denn er schielt ein wenig in alle Richtungen. Bei mir streckt er die Arme nach Osten, Richtung Salzburg also. Er ist zwar sonderbar, aber er scheint schon ein Engel zu sein … was wäre er sonst … ein Vogel hätte keinen so dicken Bauch, aber sicher zwei Flügel … und ein Mensch könnte zwar einen dicken Bauch haben, aber sicher keine Flügel, nicht mal einen, nicht wahr?

Die Katzen gehen nur mehr mit Abstand an ihm vorbei, seit er bei dem Versuch, sich an ihm zu reiben, zu wackeln begann und mit lautem Gepolter umgefallen ist.

In welcher Mission ist er hier gelandet, die Arme ausgestreckt, fluguntauglich und alleinstehend ohne Füsse mit einem offenen Mund, der nichts sagt?

„Unterste Charge“, wie H.M. Enzensberger seinem bösartigen Besucher einst andichtete, ist meiner sicher nicht, eines Tages war er einfach da und ist geblieben, wir pflegen keinerlei Konversation und sind uns zwar immer noch fremd, aber wir haben uns aneinander gewöhnt und seine Sterne leuchten so schön.

 

2 Gedanken zu „Die Sternenseite

  1. Er erinnert mich an eine Kinderzeichnung und hat etwas Liebenswürdiges an sich. Wenn er auch keine Kerze trägt, so darf man sich nun vielleicht wünschen, was er bereithält. Für jede/n die/der ihn anschaut eine Kleinigkeit: ein kleiner Wunsch. Leere Hände, die dennoch etwas bringen – etwas Zeit…schöne Gedanken an einen selbst gemalten Engel…schöne Kindheitserlebnisse…. Hm, da steckt viel in deinen Bildern des Engels.

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

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