Das Feenspiel – 6. Rauhnacht

Es dunkelt. Ein großer Vogel durchsegelt den Abendhimmel. Zögernd betritt eine Frau die Höhle, trägt in zusammengelegten Händen Feuer in die Mitte, dessen Flackern die Gestalten der Anwesenden umspielt. Sie setzt die Kapuze ihres nachtblauen Mantels ab, sieht sich um und beginnt zu sprechen.

***

Von allen Schwestern bin ich die, die man zuerst übersieht. Mein Name ist Meret, geehrt durch die Göttin Ma’at.

In meinen blauen Mantel gehüllt stehe ich zwischen den Menschen und warte auf die, die sich von mir angezogen fühlen. Es sind immer die gleichen.

Du strahlst so eine Ruhe aus, sagen sie. Ich lächele. Wenn sie von meinen Stürmen wüssten. Und dann erzählen sie.

Vom Überleben.

Von der Ungerechtigkeit.

Von der Hektik.

Von der Überforderung.

Von der Angst.

Von Lasten, die verhindern, dass sie sich erkennen können.

Wer bist du, frage ich, wenn sie auf meine Antwort warten, denn manchen reicht es, dass ich ihnen zugehört habe. Was drückt man dir auf, was tust du selbst dazu, dass es dir so geht, wie es dir geht? Bist du bereit, dich infrage zu stellen, die Grenze dessen, was für dich normal ist, zu verschieben, Verantwortung zu übernehmen?

Jetzt verlassen mich viele, denn diese Fragen sind unbequem und die Antworten rütteln auf. Sie gehen mit meinem Segen, sei er ausgesprochen oder nicht, viele glauben nicht an seine Macht. Es dauert, bis eine Saat aufgeht, manchmal kürzer, manchmal länger. Ich zwinge nicht. Ich bin nur da. Und wenn nicht in diesem Leben, dann danach.

Wer bist du, fragen sie mich.

Ich bin sanft, antworte ich. Und frage weiter. Verlangst du vielleicht zu viel von dir? Von anderen? Glaubst du überhaupt, dass du ein Recht darauf hast?

Auf Wachstum?

Auf Gerechtigkeit?

Auf Gelassenheit?

Auf Wertschätzung?

Auf Liebe?

Alle haben Zweifel. Viele glauben, dass sie selbst schuld sind. Dann weinen wir. Lachen. Schweigen. Wir sprechen, wir lassen uns aufeinander ein. Keine Antwort ist wie die andere. Die Nacht wird lang, und die Dunkelheit bewahrt unsere Geheimnisse.

Ich bin die, die das rechte Maß sucht. Grenzen zieht. Hindernisse einreißt. Strukturen sichtbar macht. Geduld erbittet. Ermutigt.

Du bist es wert, dass es dir gut geht. Aber nicht auf Kosten anderer.

Dein Mitmensch ist es wert, dass es ihm gut geht. Aber nicht auf deine Kosten.

Himmel und Erde, Mensch und Tier sind es wert, dass es ihnen gut geht. Und das liegt auch in unserer Hand.

Ich bin die, die den Ausgleich lehrt.

Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, er ist ein Teil von ihr. Dankbarkeit und Ehrfurcht stehen uns allen gut zu Gesicht.

Wir sind alle Sterne unter einem Himmel.

***

Sie hebt die Arme. Ihr nachtblauer Mantel entfaltet sich und klafft auf, sie wächst, bis die ganze Höhle zu verschwinden scheint. Klar und hell funkeln die Sterne in ihrer unermesslichen Pracht, unendlich nah und fern zugleich, dass allen Tränen über die Wangen rinnen und alle Herzen vor Liebe weit werden, weil sie sonst zersprängen.

Seht das Geschenk der Göttin. Öffnet euer Herz für die Sehnsucht. Geht in Schönheit.

Sie lacht, und plötzlich ist die Höhle wieder eine Höhle. Ein Feuer prasselt in der Mitte. Draußen erschallt ein Ruf – eine Eule?

Lasst uns feiern, Schwestern, sagt sie. Ich habe euch so vermisst.

Gastbeitrag: Die 6. Fee

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