„Das Europa der Muttersprachen“, Ukraine 2

 

Gestern habe ich zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben als filmbegeisterter Mensch den Kinosaal während der Vorstellung verlassen, weil ich den Film nicht mehr aushalten konnte. Das erste Mal war bei dem Film : „In einem Jahr mit 13 Monden“ von Rainer Werner Fassbinder. Damals musste ich raus, weil ich die Gesichter und die Hände derer, die im Schlachthof  töteten und das Geräusch der stürzenden Tiere nicht mehr ertrug…

Und gestern den Film zu Beginn des zweiten Tages des Festivals: „The Tribe“ von Myroslaw Slaboschpyzkyj  bei der Szene, in der ein Mädchen mit einer „Engelmacherin“ (eine, die illegal Abtreibungen durchführt) in deren Küche kurz um den Preis feilscht, dann drückt die Frau ihre Zigarette aus und holt ihr „Besteck“ aus dem Kasten und kocht es aus über der Gasflamme vom Küchenherd, dann geht sie raus und holt eine Strick und bindet dem Mädchen die Arme und Beine so zusammen, daß diese sich nicht mehr rühren kann, auf einem Tisch hockend mit gespreizten Beinen im winzigkleinen Clo…da mußte ich rausgehen, denn ich bekam so starken Würgereiz und …es ging nicht mehr.

Der Film spielt in Jetztzeit in einem Taubstummeninternat, es fällt kein Wort, jegliche Kommunikation läuft über Gebärdensprache. Er dauert über zwei Stunden und bis dahin, wo ich rausgegangen bin zeigte er ein Leben in Anarchie, roher Gewalt, Brutalität und Kälte und danach, so habe ich erfahren, wurde es noch viel schlimmer.Ich stehe noch immer unter dem Einfluß dieser Bilder und ich denke nach darüber, was die Aussage dieses Films denn ist…was will er mir sagen?

Junge Männer werden zu Handlangern der Mafia abgerichtet und tun alles, was ihnen befohlen wird, alle Erwachsenen sind entweder Bosse bei der Mafia oder selber deren Handlanger. Die Mädchen werden als Fleischstücke an LKW – Fahrer verkauft, die mit ihnen machen, was sie wollen. In diese Welt gerät ein junger Bursche, der in der ersten Szene mit einem schäbigen Bus durch eine schäbige Gegend fährt und an einer heruntergekommenen Haltestelle aussteigt und mit seinem Koffer zu diesem Internat geht.

In dieser ersten Szene wusste ich schon, daß ich diesen Film nicht ertragen konnte. Am Straßenrand war ein kaputtes Auto zu sehen, gleich ganz am Anfang. Ich habe bei Gott in meinem Leben schon unzählige Schrottautos gesehen, aber noch niemals so ein trostloses braunes Autowrack. Es lag, schon ziemlich von Unkraut überwuchert da und war so lähmend tot und trostlos…kaum auszuhalten dieses Zeichen des gleichgültigen Verderbens.

Was soll dieser Film aussagen über die heutige Situation in der Ukraine?

Ich bleibe ratlos zurück.

Auch, daß zwischen zwei jungen Menschen ein zartes Gefühl entsteht inmitten dieses Schlachtfeldes der Bestie Mensch, soll es heißen: Schau her! Trotzdem gibt es Hoffnung, trotzalledem gibt es die Liebe…ich weiß nicht, was ich denken soll. Vorhin hab ich noch den wie immer brilliant geschriebenen Blogeintrag von Madame Filigran gelesen über das Böse…ich mag es nicht glauben, daß es „Das Böse“ gibt, obwohl mir das meine christlich-abendländische Erziehung mit allen Mitteln der Gehirnwäsche eingetrichtert hat…nein, ich mag mich dieser angeblichen Existenz des Bösen nicht ergeben…noch dazu, weil es ja angeblich von einer Frau in die Welt gebracht wurde, dadurch, weil sie (Eva , aber noch schlimmer die wilde Lilith) den Mann dazu verführte, zu Erkenntnis über das eigene Tun zu gelangen…

Aber das alles führt jetzt viel zu weit, ich glaube, jede / r  sollte unbedingt zumindest versuchen, diesen Film sich anzusehen und dann darüber zu sprechen…denn genau dazu sind doch so extrem anstrengende Festivals da, daß man miteinander ins Gespräch kommt über alle Grenzen und Barrieren hinweg, oder? Es gibt den Film auf DVD.

Ich werde mich jetzt in das abschließende Programm hineinstürzen und in den nächsten Tagen mit ein wenig Abstand nochmal berichten von diesem Glücksfall eines Verständigungsversuchs innerhalb der Kulturen.

17 Gedanken zu „„Das Europa der Muttersprachen“, Ukraine 2

  1. Das Gleiche passierte mir einst beim Film „Ein kurzer Film über das Töten“.

    Verrohung zu zeigen hat bis zu einem gewissen Grad seine Berechtigung. Wenn man davon spricht, ist das eines, aber sozusagen mittendrin zu sitzen, was anderes.
    Vielleicht wollte der Regisseur so die Betrachtenden wirklich reinholen ins Geschehen. Körperlich reinholen.
    Bei Dir ist das ja gelungen, Du konntest es nicht mehr ertragen.
    Ich wäre auch früh gegangen, bei mir ist auch immer recht bald eine Stufe erreicht, wo es nicht mehr geht.

    Schlussendlich aber die Frage: Was bewirkt ein solcher Film? Macht er die Menschen zu besseren Menschen? Durch Einsicht?

    1. Ach lieber Gerhard, die Frage, was Kunst bewirkt, ist nicht zu beantworten, glaube ich…wie jedes Wort, das wir zueinander sagen oder jeder Blick, den wir aussenden …kann sie anknüpfen an Vorhandenes, oder Neues anregen…alles oder nichts sein …
      liebe Grüße

  2. Nein! Ich will Frieden haben, in mir und in der Welt. Filme über das Böse – nein. Ich habe lange gebraucht, um mir eine gewisse, sanfte Selbstfürsorge angedeihen zu lassen. So halte ich es weiterhin.
    Gruß am Abend

  3. Ein wahnsinnig ergreifendes Lied! Mit soviel Herz gesungen. Eine Sprache, die sich in die Seele eingraviert.
    Doch einen Film wie jenen anzuschauen, nein, das könnte ich nicht. Ich müsste auch davon laufen. Glücklich, solang wir halt noch vor der grausigen Wirklichkeit davon laufen können. (Leider ein Feigling)
    Hochachtung, dass du die Energie aufbringst, bei dieser Veranstaltungsreihe durchzuhalten.
    Es grüßt dch deine Margit

    1. Ja, das Programm war dicht gedrängt, anstrengend und interessant, eine überaus beglückende Veranstaltung in bester Stimmung und Freundlichkeit!
      Grüße an Dich

  4. Solche Filme und Bücher dienen der Aufklärung und führen hoffentlich wirklich zu mehr Verständigung. Aber Menschen mit brutalen Neigungen werden dadurch m.E. nicht zu besseren Menschen. Eher glaube ich, sie werden nur zu grausamen Taten angestachelt. Vielleicht war es der von dir erwähnte Film von Fassbinder, der mich zum Vegetarier machte. Aufklärung ist ganz wichtig, aber sie wird das Böse nicht aus der Welt schaffen. Um nicht daran zu verzweifeln, wälze ich die Frage nach dem Sinn des Bösen. Aber ich bin auch Wildgans‘ Ansicht, daß sich nicht alle damit beschäftigen müssen. Jeder wie er kann und was in seinem Leben Thema ist. Danke für deinen Beitrag und das Verlinken. Liebe Grüße an dich.

    1. Liebe Madame, niemand nimmt uns die Arbeit ab, die eigenen Grenzen zu erkennen und unsere Entscheidungen zu treffen…ich glaube nicht, daß die Aufgabe von KünstlerInnen ist, die Welt besser zu machen, sie stellen sich ihrem Leben, wie jede/r von uns mit ihren Ausdrucksmitteln und versuchen, in einem schöpferischen Prozess dem bisher Unsichtbaren Gestalt zu verleihen und der Welt zu zeigen…wenn es was mit uns zu tun hat, dann erreicht es uns und sonst halt nicht, oder? Und das alles ist so vielfältig, wie Menschen halt auch sind.
      Und nein, ich glaube auch nicht, daß sich Das Böse aus der Welt schaffen läßt …ich fürchte mich vor der Banalität, daß Menschen böse sind, weil es diese Möglichkeit gibt.
      Ich grüß Dich herzlich!

  5. Liebe Margarete, ich verließ bislang einmal einen Kinosaal, das war bei Pasolinis Film: 100 Tage von Sodom, auch hier war es die Brutalität, die sich immer mehr steigerte und dabei so realistisch war- ich war tagelang schockiert wozu Menschen in der Lage sind und seitdem ist unsere Menschenwelt wahrlich nicht sanfter, nicht liebevoller geworden, auch wenn wenigstens hier und dort Tendenzen und Bemühungen sichtbar und spürbar sind.
    Filme sind auch Spiegel- wirklich kann ich mir nun natürlich kein Urteil erlauben, aber eins weiss ich, ich will ihn nicht anschauen! Mir reicht es um die Abgründe zu wissen.
    Was nun Eva und Liith anbelangt, so sind das eben auch nur Geschichten, ja, urchaus prägend, aber wenn man weiss, dass andere Völker andere Geschichten haben, relativiert sich doch vieles…

    herzlichst
    Ulli

    1. Ja, dankeschön, liebe Ulli! Die Filme sind Arbeiten von jungen Filmemachern aus der jetzigen Ukraine und haben mir einen Blick aus ihren Augen eröffnet, für den ich sehr dankbar bin, aber es ist wie mit jeder Kunst, es erreicht uns das, was uns halt grad erreichen soll, wofür die Zeit reif ist und KünstlerInnen verarbeiten das, was für sie ansteht. Die Entscheidung dafür, was sein muß und was nicht sein darf, die nimmt uns eh niemand ab, das ist, wie alles im Leben ein schmaler Grad, nicht wahr?

      Viele liebe Grüße an Dich!

      1. ja, ein sehr schmaler Grad! Ich dachte und schrieb heute schon einmal von der „Seiltänzerin“ …

        die vielen lieben Grüsse habe ich sehr gerne genommen und sende sie nun von Herzen an dich zurück, Ulli

  6. Ja, was will der Film sagen?
    Auf jeden Fall ist der Film in deinem Beitrag so großartig von dir in seiner Wirkung dargestellt, dass ein Nachdenken über die eigenen Grenzen unumgänglich wird. Ohne den Film gesehen zu haben: so was auf die Leinwand zu bringen, oder in einem blog zu beschreiben, das ist: Kunst!

    P.S.:
    Ich schalte bereits schon um, wenn mir ein „Tatort“ ( die lasche Alternative dazu) zu aufdringlich wird.

    1. Lieber Menachem, freue mich so, daß Du mal wieder hier warst!
      Ich danke Dir sehr, daß Du mich auf so wohlwollende Weise mit Kunst in Verbindung bringst!
      Viele liebe Grüße!
      …und vergiß nicht, bei Deinen Urlaubsplänen den Südosten zu berücksichtigen!

  7. Es gibt kein wirkliches „Böses“, es gibt nur den Mensch und die meisten „normalen“ Bürger kommen nicht in Kontakt mit jenen, denen ein Menschenleben nichts wert ist oder nur eine handvoll Geld. Wir leben in einer großen rosa Blase und sind schon beeindruck, wenn wir behinderte oder hungernde Menschen sehen, denn die wahre Welt, die den Untergrund regiert, könnten wir nicht ertragen. Wir sind nur die die Fettaugen, die auf einem gammelden Sud schwimmen. Von daher ist der Film sicher gut und eindringlich gemacht, aber ich würde mir so etwas nie ansehen, nicht mehr.

    1. Herzlich willkommen, lieber Arno, danke Dir sehr für Deinen Kommentar, vor allem für die „Fettaugen“…ich versteh Dich gut!
      Ja, und mit diesem Bösen fürchte ich, verhält es sich ganz banal so, daß es halt praktiziert wird, weil es da ist. Die Filme sind Arbeiten von jungen ukrainischen Filmemachern, die halt ihren Blick auf das Geschehen haben und ihm Gestalt verleihen in künstlerischer Freiheit…in diesen Fällen mit schonungslosem Realismus, kaum auszuhalten in ihrer Wahrhaftigkeit…ja, natürlich hab ich auch Grenzen…trotzdem bin ich dankbar für alles, was mich aus meinen Denkstrukturen herausreisst, weil es mich provoziert, ärgert oder schmerzt.
      Ich kann Dich schon verstehen, glaub ich, aber ich bin so froh, daß es KünstlerInnen gibt, die es auch mal wagen, uns ohne Trost zurückzulassen.
      Schicke Dir viele liebe Grüsse!

  8. Was der Film soll? Ein Hilfeschrei einer aufgeklärten intellekuellen Minderheit dort: „DAS Muss Thema werden, wenn wir „Europäer“ sein wollen. Phrasen und Geld helfen nicht, wenn das Menschenbild sich nicht wandelt.“ Aber Unmenschlichkeit hat in Russland eben eine seeeehr viel längere Tradition als anderswo.

    Ukrainisch – also quasi (post-)russische Filmkunst. Das Menschenbild ändert sich an der Ostgrenze Polens gravierend. Deshalb auch die vielen polnischen Aufstände während der polnischen Teilung vor allem im russ. Teil. Russland schwankte bereits zu Zeiten von Dostojewski zwischen mitfühlender Weichheit/Empfindsamkeit(im Buch) und übergroße Härte(im Leben). Die Härte gewinnt. Immer. Toleranz wird herzergreifend in Büchern beschrieben und gefordert – weil sie dort im Alltag nicht existiert. Alle gegen alle , und die von der Polizei ergriffen werden, haben eben Pech gehabt. Willkür. Unter dem Zaren, unter den roten Zaren und unter den Oligarchen.

    Anpassen, nicht auffallen, überleben.

    Gabriele Krone-Schmalz‘ letztes Buch „Russland verstehen“ hilft weiter.

    Der Unterschied zwischen Ukrainern und Russen? Wurde vom deutschen Generalstab 1918 erfunden.

    1. Ja!
      Dank Dir , das Buch von Krone-Schmalz hat mein Herr Graugans schon gelesen, werde das auch tun! Ob die Ukraine eigentlich zu Russland gehört…puuuh, darüber kann ich mir kein Urteil erlauben, alle SchriftstellerInnen, die ich jetzt gehört habe bestehen auf der Eigenständigkeit der Ukraine, so scheint es mir.
      Es gibt eine so krasse Gleichzeitigkeit von Gegensätzen in diesem Land…die eine Seite ist ist noch immer da, wo sie war, da ändert sich gar nichts und dann gibt es Aufbruch der Jungen, der sich wohl auch nicht mehr verbergen läßt…ich weiß, das ist sehr vereinfacht dargestellt, aber es war so spürbar in diesen drei Tagen…ich weiß so wenig, aber immerhin ist mir wieder bewusst, daß es das Zentrum eines Europas ist,von dem der Ural die Grenze ist…meine Güte!

      Vielen Dank, lieber Mr. Blu, immer so schön, Dich hier begrüßen zu dürfen!
      Servus!

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