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24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 3: Ulli Gau

Mutter, Mutter, wie weit darf ich in deinen Schatten reisen, den du warfst?

Zum Fürchten – dein unberechenbarer Stachel. Zum Lieben – dein Walzertanz. Zum Verwundern – so Vieles. Und so viele Wunden.

Deine Geschichten, die du immer anders erzähltest, was erzählen sie im Dazwischen?

Immer gibt es ein Vermissen, ein unbestimmtes Sehnen, einen Tauchgang hinab ins Jenseits aller Begierde, wo der Mond und der Himmel grünen. Die Mutter kannte das nicht, ihr Alp färbte die Welt in grelles Schwarzweiß und nichts dazwischen. Vielleicht hätte es der Vater gewusst, aber er schweigt, wie er immer geschwiegen hat – aus seinem Grab hinauf.

Eine verletzte Frau, ein Trauma hinter schöner Stirn, Gefangenschaften, manche kann ich nur erahnen. Mutter, die Frau mit den Wechseltemperaturen von kalt bis heiß, lauwarm der Durchschnitt. So viele Verluste! Deine Gewinne rechneten sich am Ende nicht.

Müde, nylonbestrumpfte Füße rieben am Abend Wärme in die zerquetschten Zehen. Mondänität, Milupafläschchen, Fertigknödel, Etuikleider und Pfennigabsätze, dazwischen ein strafender Gott. Am Ende standen halbherzige Versöhnungen.

Das Unaussprechliche fand keine Worte, in kein Ohr und auf kein Papier. Mutter, so fern – in ein Stachelkleid gehüllt. Flucht, Krieg und Bombenhagel, dann kleine Fluchten und Größenwahn. Das belastete Herz fand kein Ventil.

Mutter, du Frau hinter den Nebeln, tanze, dann bist du schön.

 

Text und Bild: Ulli Gau

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 2: Andreas Wolf

Die linkshändige Frau

Meine Mutter war immer fremd in der Welt. Als Spanierin zur Welt zu kommen in Jena, im Mai 1939, den Namen „Maria del Pilar Gómez de Ortega“ durch die Welt zu tragen im Nazideutschland, eine Kindheit komplett im Krieg, wer kann sich das schon vorstellen? Ihre erste Erinnerung, so erzählte sie immer, war das Bild der brennenden Stadt Jena. Überstürzt waren sie beim Aufheulen des Luftalarms in den Keller gerannt, die ganze Familie, meine fünfjährige Mutter in Strumpfsocken, Stunden müssen sie da so gesessen haben, während über ihnen die Stadt in Flammen aufging. Und meine Mutter nervte dann alle so mit ihrem Wunsch, nach oben in die Wohnung kurz zu huschen, nur um sich schnell Schuhe anzuziehen, dass ihr Vater schließlich nachgab, und noch vor der offiziellen Entwarnung mit ihr nach oben ging. Was sie dort sah, sollte sich ihr fürs Leben einprägen: Die Fenster der Wohnung geborsten, zersplittert, die Scherben waren überall, auch im Milchreis, den die Mutter kurz vor dem Luftangriff noch zubereitet hatte. Und draußen die brennende Stadt. Unfassbare Minuten im Leben eines Kindes. Dass der Vater den Milchreis zum Müll schmiss, war ihr unverständlich, ob man die Scherben da nicht mit der Hand schnell rauspicken könnte, und den Rest dann noch verspeisen? Verständlicherweise blieb der Vater hart. Ihr Leben lang war meine Mutter eine, die kein Essen wegschmeißen konnte.

Aber auch in der eigenen Familie blieb sie irgendwie fremd. In Jena ging meine Mutter auf so eine Reformschule, wo man die Linkshänder einfach Linkshänder sein ließ. Als die Familie aus Angst vorm Kommunismus dann 1949 nach West-Berlin flüchtete, wurde meine mittlerweile zehnjährige Mutter plötzlich von der Schule gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben, das muss furchtbar gewesen sein. Den Stift hielt sie auch später in der rechten Hand, so gründlich war die Umerziehung vonstatten gegangen. Aber während alle in der Familie Bücher lasen wie die Verrückten, war meiner Mutter alles Schriftliche verhasst. So verspotteten sie ihre Geschwister, man habe sie als Säugling auf der Straße aufgelesen, sie sei gar nicht wirklich verwandt mit den anderen. Dass ihre Ablehnung der Schriftwelt von der Traumatisierung durch die zwangsweise erfolgte Umerziehung der Schreibhand herrühren könnte, auf den Gedanken kam niemand, auch sie selber nicht. Als ich ihr diese Theorie einmal präsentierte, war sie ganz überrascht.

Meiner Mutter lag das Praktische näher als die graue Theorie, sie wollte lieber Dinge machen, anstatt lang drüber zu reden oder schlaue Bücher zu lesen. Folgerichtig brach sie nach der zwölften Klasse das Gymnasium ab und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Den Eltern war das nicht recht, die waren beide Akademiker, was damals noch unüblich war, dass auch meine Großmutter einen Hochschulabschluss hatte, aber meine Mutter setzte sich durch, sie hatte die Schnauze von der Schulbank voll. So war sie das einzige von sechs Kindern ohne Abitur, Außenseiterin auch hier.

Dass die Spanierin aus Preußen schließlich in Bayern eine Heimat fürs Leben fand, verdankte meine Mutter dem Bau der Berliner Mauer. Eigentlich wollte sie nämlich mit einer Freundin nach Italien reisen im Sommer 1961, doch dann begann die DDR plötzlich, eine Mauer mitten in Berlin aufzurichten, und der Freundin wurde die Reise jetzt zu riskant, sie wollte lieber in Berlin bleiben, wer wisse schon, was gleich als nächstes noch passieren würde? Ob man überhaupt nach Berlin wieder zurückkommen könnte? Meine Mutter war da weniger ängstlich, doch ihre Eltern wiederum wollten sie nicht unbegleitet nach Italien reisen lassen, also fuhr sie zu ihrer Cousine nach München, die beiden machten einen Tagestrip zum Staffelsee, wo mein zukünftiger Herr Vater zufälligerweise an dem Tag auch kurz reinsprang, und die Dinge nahmen ihren Lauf. So gesehen verdanke ich meine Existenz wirklich dem Mauerbau. Ohne ihn hätten meine Eltern sich niemals kennengelernt.

Als mein Vater seine neue Freundin zum ersten Mal mitnahm zum Stammtisch mit seinen Spezln, da blieb sie ganz lange stumm, weil sie den bayrischen Dialekt so gut wie nicht verstand. Die Freunde wiederum hatten noch nicht so wahnsinnig viele hübsche Spanierinnen gesehen in ihrem Leben. So bestaunte man sich gegenseitig, bis meine Mutter doch einmal einen Satz sagte, woraufhin der ganze Tisch schlagartig verstummte, einer der Freunde meines Vaters sich erstaunt zu ihm umwandte und sagte: „Die ko ja Deitsch!“

Nach der Trennung meiner Eltern rieten ihr viele, von Oberammergau wegzuziehen, ein neues Leben anderswo zu beginnen, aber sie hatte hier Wurzeln geschlagen. Sie, die Zugezogene, liebte dieses Dorf vielleicht mehr als alle die Einheimischen, denen die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft wie selbstverständlich zufliegt. Für meine Mutter war das harte Arbeit gewesen, hier wollte sie nie wieder weg. Ich danke ihr diese Entscheidung bis heute, so wie ich ihr so vieles danke, und Trauer erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke, wie wenig ich ihr diese Dankbarkeit zu Lebzeiten gezeigt. Wie oft ich sie geschimpft, ihre Sturheit verflucht habe. Oft hätte ich besser die Klappe gehalten.

Was soll ich mutmaßen über meine Mutter, im Februar werden es fünf Jahre, dass sie nicht mehr lebt, ich vermisse sie wie niemanden sonst, gleichzeitig spüre ich ihre Präsenz oft ganz deutlich. Ganz kurz nach ihrem Tod fuhr ich nach München, weil ich für meinen alten schwarzen Anzug zu dick geworden war, ich brauchte also einen neuen für die Beerdigung. Und da hörte ich praktisch ihre Stimme in meinem Kopf, wie sie sagt: „So etwas kauft man beim Hirmer, oder beim Konen.“ Und so ging ich halt als erstes zum Hirmer, wo ich einem Verkäufer mein Anliegen erläuterte, ein Beerdigungsanzug, und er fragte mich, wer denn gestorben sei. Meine Mutter, erwiderte ich. Und er erzählte dann vom Tod seiner eigenen Mutter, der auch erst vor ein paar Monaten gewesen war, das war kein Verkaufstrick, ich verstand alles, was der Mann mir sagte. Der Anzug, den wir schließlich zusammen fanden, war ideal. Er überreichte ihn mir mit den Worten: „Die Mama ist halt die Mama.“ – „Die Mama ist die Mama“, antwortete ich, denn es gab darüber hinaus nichts weiter mehr zu sagen.

Text:  Andreas Wolf

24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 1: Margarete Helminger

Vorwort

Ja, ich habe es geahnt, dieses „Mutterthema“, wie wir es jetzt oft lapidar benennen, um einen Abstand herzustellen, den es nicht gibt … würde schwierig sein. Die anfängliche freudige Bereitschaft führte zu vielen Zusagen, von denen aber immer mehr unmöglich einzuhalten erschienen, je näher der 1. Dezember rückte. Große Verunsicherungen und manch brachliegender Schmerz aus Vergangenheit und Gegenwart tauchten auf und machten die Veröffentlichung von Texten unmöglich.

Allen, die der Einladung gefolgt sind, um hier auf meiner Bühne mit mir gemeinsam zu wagen, sich der eigenen Mutter textlich zu nähern möchte ich hiermit herzlich danken für das große Vertrauen! Und denen, die eingeknickt sind unter einer plötzlichen Schmerzüberflutung, als sie  mit der Mutter hinein in die Urgründe der Existenz geraten sind, auflodernd längst verarbeitet Geglaubtes: habt meinen Herzensdank für die anvertrauten Geschichten, egal ob ich sie hier veröffentlichen darf oder sie im Geheimarchiv meines Menschseins verschließe.

Ich freue mich unglaublich über jeden Text, der noch kommen wird, und ich halte die Türen frei für Euch, bei denen, die jetzt absagen, bleibt die Tür geschlossen … es bleibt spannend!

Mutmaßungen über meine Mutter

An der Tankstelle im Sommer sah ich eine Frau, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt hat. Um ihren üppigen Leib mit schweren  Brüsten spannte ein schwarzes Sommerkleid, sie trug Flipflops und neben ihr liefen ein paar Kinder, als sie sehr aufrecht, leicht tänzelnd zur Kasse ging. Auf ihrer Hüfte schaukelte nicht nur ein kleines Kind, sondern die ganze Welt, so schien es mir. Wir begegneten uns für ein paar Sekunden, ich sah in müde Augen, dunkel und tief wie das Weltall, ihre Haut, dunkel und samtig, eine Ewigkeit hätte ich in der Nähe ihres Körpers bleiben mögen und ihren Geruch nach Vanille und ein wenig Schweiß einatmen wollen, das Kind, das sich an ihr festhielt, habe ich beneidet.

Das große Bergschaf Isabella hat seinen beiden Kindern gezeigt, wie das geht mit dem Zerdehnen der Zeit; es hat sie gelehrt, plötzlich stehenzubleiben und nur vor sich hinzuschauen, absolute Bewegungslosigkeit, wie Schafe das machen. Auch das Stehen um einen Baum und dabei die Stirne an seinen Stamm zu lehnen, hat es ihnen beigebracht, die Böcklein sind sehr gescheit und haben es ganz schnell gelernt.

Das Maß der Dinge bekommen die Kinder von den Müttern gezeigt, solange, bis sie es selber erkennen.

Meine Mutter ist schon lange tot, 53 Jahre. Sie kam von irgendwo in Böhmen nach irgendwo in Bayern, dabei hatte sie nichts außer verlorener Liebe, der Vater tot und der Ehemann vermisst an der Front. Und sie hatte keine Heimat verlassen als sie gekommen ist und trotz Mann und Kind und Haus und Hof keine gefunden, als sie wieder gegangen ist. Beim Kuhmelken hat sie Arien aus Tosca gesungen und sie konnte gut den Häferlkaffee kochen. Ihre Wirklichkeit hat sie sich als Operette zurechtgesungen und -gelacht. Ihr Humor war grenzenlos, abgrundtief und traurig und ihr Lachen unwiderstehlich und ansteckend. Sie hatte vor nichts Respekt oder Angst. Sie war eine kleine zarte Schönheit mit großen braunen Rehaugen und mein Vater verliebte sich unsterblich in sie und brachte sie, die Fremde, nachhause zu meinen Großeltern. Ich  kann mich nicht erinnern, daß sie mal gegessen hätte und doch wurde sie irgendwann dick. Mein Vater mochte keine dicken Menschen, er stufte sie als willenlos ein und das konnte er nicht leiden. Dann trank sie viel Weißwein, aß nichts mehr und wurde wieder dünn, dann starb sie.

Vor ein paar Nächten kam dieser Traum wieder, den ich alle paar Jahre träume … eines Tages , ich bin ein Kind, die Mama ist weg, verschwunden, der Papa weiß auch nicht, wo sie ist. Ich habe große Angst, daß sie tot ist. Und wie seit vielen Jahrzehnten wache ich irgendwann auf und bin erleichtert darüber, daß alles ein Traum war, bis ich kapiere: sie ist wirklich tot.  Damals war sie tatsächlich verschwunden, nach einem der großen Kräche ist sie abgehauen mit ihrem grünen Damenfahrrad. 50 Km ist sie geradelt bis nach Berchtesgaden, wo sie eine ziemlich verwahrloste Bergbauernfamilie kannte, dort lebte sie und half bei der Heuernte, bis mein Vater sie gefunden hat und heimholte.

Nie wurde darüber gesprochen. Sie hatte mich einfach verlassen, ohne ein Wort. Dann war sie wieder da und ein paar Jahre später lag sie tot auf dem Sofa.

Es gibt ein Foto von ihr, damals, dort bei diesen Bauern, auf der Wiese mit dem Rechen in der Hand,  sie schaut sehr glücklich aus. Auf dem Kopf hat sie einen Strohhut mit roter Quaste. Gestern beim Aufräumen ist dieser Hut plötzlich aus einem Schrank mir in die Hände gefallen und da musste ich weinen.

Eigentlich weiß ich nichts von meiner Mutter. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich mal in den Arm genommen hat oder daß sie mal einfach nur lieb zu mir gewesen ist.  Wenn ich versuche, mich an sie zu erinnern, dann schleicht sich eine große Verlorenheit in mein Herz, und heute denke ich, vielleicht ist dieses Verlorensein das Bindeglied zwischen ihr und mir.

Sie lehrte mich, daß man Träumen nicht vertrauen darf, weil sie nie in Erfüllung gehen, daß Liebe schmerzt und nie hält, was sie verspricht, weil jede Geschichte schnell auserzählt ist und daß es wie in der Operette immer jemand gibt, der traurig zurückbleibt und, daß jeder alleine ist.

Ihr Lieblingslied war „O mein Papa“.

Sie sagte mal zu mir: „es stimmt nicht, was  sie sagen, daß der liebe Gott irgendwo in der Kirche ist, glaub mir Greterl, er ist in den Margeriten!“

Und sie lehrte mich :

Jetzt alle Leute einladen, alles Geld was da ist, raushauen, die Gans schlachten, Essen machen, Trinken,  alles auf eine Karte, jetzt, jetzt, jetzt, ein Fest feiern, Tanzen, Geschichten erzählen, für eine gute Pointe die Großmutter verkaufen, lügen was das Zeug hält, grenzenlos Blödeln, die Leute zum Lachen bringen, lachen bis zum Umfallen, laut singen, umarmen, küssen, egal was morgen ist …was kümmert mich morgen…

laßt uns heut ein Fest feiern!

 

Ja, so ist das wohl mit meiner Mutter.

Aber bevor ich’s vergesse:

„Patachou“ von der Knef liebte sie auch!