Archiv der Kategorie: 24 T (reloadedVII)

24 T. – Mutmaßungen … Tag 11: Über das Strawanzen

Das Kind läuft hinaus, um zu sehen, was hinter diesem fremden  Haus ist. Da gibt es diese Stiege, sie führt weit hinauf  und oben geht es auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Schneeflocken tanzen im Schweben, das Kind tanzt mit, dreht sich und pflückt sie vom Himmel wie silberne Blumen. Es läuft durch den frischen Schnee weiter und weiter, da hängt eine Schaukel an einem Baum … weit hinauf, bis dahin, wo die Schneeflocken herkommen … der Baum schüttelt sich und das Kind wird nass und es fängt an zu frieren. Von weit her läuft es auf das fremde Haus zu und durch eine Türe hinein. Ein Gang, lang und dunkel, aus einem Türspalt fließt ein kleiner Lichtschein dem Kind vor die Füße, was ist wohl hinter der Türe? Ein leises Stimmchen ruft: komm doch … drinnen ist ein Christbaum, so groß, wie ihn das Kind noch nie gesehen hat, er ist mit Silber übergossen, das funkelt im Schein der Kerzen, aber es ist doch noch nicht Weihnachten, denkt das Kind, war denn hier schon das Christkind? Alles ist geheimnisvoll in diesem Zimmer, lange weiße Vorhänge, bis zum Boden, ein Bett irgendwo in diesem großen Raum, ein Saal in einem Märchenschloß … ein Mädchen, nur wenig älter als das Kind rutscht aus dem Bett. Es hat ein langes Nachthemd an, oder ist es ein Prinzessinnengewand, und kommt näher. Das Kind will die Hand nicht nehmen, die sich ihm entgegenstreckt, sie ist so weiß wie Porzellan, auch das Gesicht ist ganz bleich. Das Mädchen sagt  etwas mit ganz leiser Stimme, es atmet schwer und seine Lippen sind so blau. Im Raum riecht es komisch, das Kind möchte verschwinden, da geht die Türe ganz auf, ein Mann kommt herein und trägt das Mädchen zum Bett, du darfst doch nicht aufstehen, dein Herz ist zu schwach. Wir warten auf die Operation sagt er. Das Kind schreit laut: Nicht einsperren, du darfst sie nicht einsperren, sonst stirbt sie! Es schreit ganz laut, aber niemand hört es, denn es sagt nichts.

Die Eltern schimpfen, wo warst du denn schon wieder, ständig bist du wie vom Erdboden verschluckt, du darfst nicht immer weglaufen.

Als ich mit dem Auto an dieser Kreuzung stehe, irgendwann kurz vor Weihnachten, da schaltet die Ampel auf grün,  ich sehe die tanzenden Schneeflocken und möchte ihnen folgen, irgendwohin in die Dunkelheit, einen Umweg ins Nirgendwo. Hinter mir hupt einer, und während ich noch kurz zögere, rauscht ein großer Wagen bei rot über die Kreuzung. Ich fahre los mit Herzklopfen und weine ein wenig vor Schreck, aber dann überflutet mich diese Lust, einfach mich treiben zu lassen ohne Orientierung, bei Schneefall und Nebel mich aufzulösen im Tanz des Universums … heimliche Wege gehen, die sonst nur die Sterne kennen.

Daheim steht Kater Herbert an der Türe und möchte raus. Gehst auch strawanzen, sage ich, aber da ist er schon weg, verschwunden ums rechte Hauseck herum und von der Nacht verschluckt.

24 T. – Mutmaßungen … Tag 10: Über die Stadt

Die Stadt

Stadtkinder spielen andere Spiele

Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Kein Hund, keine Katze, kein Huhn, kein Hahn, keine Kuh, kein Schwein.

Plattenwege und Innenhöfe, viele Kinder, großer Sandkasten, Rutsche, Klettergerüst und Schaukel. Hier spielte sich das Leben ab.

Manchmal riefen der nahe Wald, der Bahndamm, die Straßenbahnendstation, die Berge und der Kanal, die Fahrradtouren durch die Felder, hin zum nächsten Schwimmbad.

Ich hatte keine Angst. Nur wenige Autos, ein paar skurrile Typen, die jede=r kannte.

Ein Kiez ist auch nur ein Dorf.

Hier kannte Jede Jeden, Frau Milchgeschäft und ihre Tochter, den Schutzmann an der Ecke, die Eierfrau und natürlich die Uralte mit der winzigsten Eisdiele der Welt.

Überhaupt, man kannte sich, man grüßte, man kaufte bei denen, die man kannte und manchmal tratschten die Mütter auf dem Boden beim Wäscheversorgen. Man lieh sich ein Ei oder ein Tässchen Mehl, hütete gegenseitig die Kinder und ließ es gut sein.

Doch, ich hatte Angst. Im Keller wohnte der Buhmann. Im Keller waren die Kartoffeln und das Eingemachte, mein Fahrrad.

Blöde Erwachsene!

Zwanzig Jahre später, in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez, war es auf den ersten Blick nicht viel anders. Es fühlte sich heimatlich an. Selbst die Amsel sang am Morgen und am Abend in den Höfen.

Die Welt war schneller geworden, lauter, enger, fremder, wütender. Die Häuser höher, die Autos mehr und ihre Fahrer=innen rücksichtsloser. So manches Mal fürchtete ich um meine Kinder.

Ein Buhmann wohnte nicht im Haus.

Die Metropolen der Welt wachsen in den Himmel, fressen Land.

Die Metropolen der Welt sind keine sicheren Orte mehr.

Die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder.

In den Städten der Welt steht kein Stuhl mehr vor der Tür.

In die Städte der Welt kehrt keine Ruhe mehr ein.

In den Städten der Welt gibt es schon bald keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.

Über den Metropolen der Welt leuchten keine Sterne mehr.

In den Metropolen der Welt finden sich noch Oasen.

Unter den Metropolen der Welt rattern die Bahnen.

Kunst und Kultur spielen in den Städten. Zeitgeist auch. Zu welchem Preis?

Warum denke ich die ganze Zeit, wenn ich an Stadt denke, an die Straßenkinder Brasiliens? Freiwild. Aber nicht nur in Brasilien.

Und ich denke an die nächtlichen Lager unter Brücken, in Parks, im Kaufhauseingang. Freiwild – auch sie. Und all diese Schergen, die mit eisernen Besen kehren. Nach unten treten geht immer noch ein Stückchen tiefer.

Ich denke an biergesättigte Kneipenböden in frühen Morgenstunden, an Kippen, die darin schwimmen, an Nachtschwärmer und Überbleibsel, an:

All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?“

Text:
Ulli Gau

24 T. – Mutmaßungen … Tag 9: Über die Freundschaft (2)

Die Freundschaft.

Oder: Der Dekalog der Freundschaft Versuch, ein Geländer zu errichten, an das Befreundete oder solche, die es werden wollen, sich vielleicht halten können.

 

Anhalten:

  • wenn du bemerkst: da sendet/empfängt/schwingt jemand auf ähnlicher Frequenz, und falls der andere das ebenfalls feststellt, dann heißt es gut hinhören/-schauen/-spüren, vielleicht erwächst ja mehr draus, und falls nicht, so war’s die intensiven Augenblicke trotzdem wert

 

Freihalten:

  • reservier dem Freund stets einen Platz: in deiner Zeit, in deiner Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, in deinem Lebenskarussell, denn es bedarf der gewussten/gefühlten/geteilten Gemeinsamkeiten, damit die Freundschaft wächst, gedeiht und auch Durststrecken zu überstehen vermag

 

Zusammenhalten:

  • durch Gezeiten und Fährnisse, durch Krisen und Krankheiten, die mal dich, mal den Freund und – wenn’s dumm läuft – euch beide zeitgleich erschüttern, und erschrick nicht: manchmal besteht Zusammenhalten in solchen Zeiten vor allem darin, dass man einander auszuhalten lernt

 

Festhalten:

  • wenn der Freund arg nah am Abgrund tänzelt oder im Malaisenmeer zu versinken droht, dann sollst du ihn festhalten bis er sich wieder fängt, und bis er sich wieder gefangen hat: ihm nicht vorhalten, dass er tänzelte oder versank oder deine Hand nicht gleich sehen konnte oder ergriff

Innehalten:

  • sobald die Freunde empfinden, dass sie einander ein Stück weit Heimat geworden sind, sollten sie von Zeit zu Zeit bewusst innehalten, um voller Freude und Genuss die Landschaft zu betrachten, die sie sich gemeinsam erschaffen und zum Erblühen gebracht haben

 

Hochhalten:

  • die Werte, die du mit dem Freund teilst, sollt ihr nicht nur hochhalten, sondern ab und an auf Aktualität und Gültigkeit überprüfen und euch ehrlich über Differenzen austauschen, denn die verschwiegenen Unterschiede in der Gesinnung sind der schleichende Tod der Freundschaft

Raushalten:

  • sobald du erkennst: der Freund will im Moment weder Rat noch Kommentar zu seinem Tun oder Nicht-Tun, sondern bloß Zustimmung oder Schweigen, dann schweig am besten oder nick nur stumm, zuvorderst gilt das für den frisch verliebten oder frisch entliebten Freund

 

Dichthalten:

  • wenn der Freund dir das Innerste seines Herzens ausschüttet, und zwar inklusive des Mördergruben-Parts, so ist über das Mitgeteilte fortan unbedingtes Stillschweigen zu bewahren, nicht nur gegenüber Dritten, sondern je nach Gemütszustand auch gegenüber dem Freund selbst

 

Aushalten:

  • die fortwährende Annäherung an die größtmögliche Aufrichtigkeit erfordert auch ein Aushalten derselben: denn in den Sternstunden einer Freundschaft offenbarst du dem Freund nicht etwa deine Schwächen, sondern die seinen

Durchhalten:

  • wann immer Freihalten, Zusammenhalten, Festhalten, Innehalten, Hochhalten, Raushalten, Dichthalten oder Aushalten schwer oder unmöglich ist, kann es hilfreich sein, dich in der Kunst des Durchhaltens zu üben, bis du weißt, ob es mit Beibehalten oder Fernhalten weitergehen wird

Text:
Kraulquappe 

24 T. – Mutmaßungen … Tag 5: Über das Land

Das Land

Jedes Land hat sein eigenes Lied.“

Am Anfang war das Land. Geformt von den Bewegungen der Erde, des Wassers, des Windes, den Tieren und Pflanzen. Später formten auch die Menschen.

Aus Wandernden wurden Sesshafte, aus wildem Land gezähmtes Ackerland. Es wuchsen kleine und größere Siedlungen, die später zu Städten mutierten. Nun ward der Unterschied geboren – Stadt und Land. Und das Land wurde immer noch zahmer. Wildes in Großstadtrevieren, Kartoffeln, Lauch, Getreide und so weiter brav auf umfriedetem Land.

Landflucht. Stadtflucht. Die Speckgürtel der großen Städte fressen sich immer weiter ins Land. Aber wehe, wenn der Hahn kräht, der Mist stinkt, die Landwirte düngen!

Es hatte noch jedes Volk ein Nachsehen, wenn es das Land, das es bewohnte, nicht als „sein Land“ begriff. Das geht nun auch schon hunderte von Jahren so.

Das Land aber verschenkt sich immer weiter. Gedankt wird es ihm kaum.

Text:
Ulli Gau

24 T. – Mutmaßungen … Tag 4: Über den Stein

Ich lebe auf einem der beiden Hügel, die der Gletscher zurückgelassen hat, als er unser Tal ausgeschoben hat. Beim Ausgraben der Pflanzlöcher für die Rosen bin ich auf unzählige Steine gestoßen, umgeben von größerem und kleineren Geröll. Ein paar Steinhaufen liegen ums Haus herum. In alten Zeiten, als die Menschen noch um die Existenz der Wildfrauen wussten, da wussten sie auch, daß diese in den Steinhaufen lebten und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie wegzuräumen. Über den Stein zu mutmaßen heißt, mich in Gebiete zu begeben, in denen alle Wirklichkeiten an den Rändern ausfransen. Sagengut fließt zusammen mit Erträumtem, Überliefertem und selbst erlebten Geschichten von steinernen Begegnungen.

Der Stein ist nicht aus Hartem gefertigt,
der Stein ist gemacht aus einem Ei,
der Steinblock aus einem Schaumklumpen.
Du wirbeltest als Weizenteigkügelchen,
als Roggenbrotklumpen
auf dem Feldrain der Zauberin.
(Finnische Ursprungsrunen)

Wenn ich meinen Weg um den kleinen schwarzen See herumgehe, meistens in der Dämmerung, dann spüre ich ihn, den Berg. Ich gehe an seinen Wänden entlang und niemals habe ich das Gefühl, daß der Stein kalt ist. Und mein Vater fällt mir ein, der hat immer vehement abgestritten, daß das Eisen kalt sei, denn es käme doch aus dem Bauch der Erde … der Stein ist auch nicht kalt.  Übriggeblieben nach dem Rückzug des  Urmeeres, liegt er da und ich spüre seine verdichtete Existenz. Riesinnen seien unterwegs gewesen, heißt es, wilde, starke Weiber, Ihre Haare wehten wie Sumpfgras im Wind, sind herumgestapft und haben Steinbrocken herumgeworfen… Uralte Mythen sprechen von einer alten Zauberin, die im Tanz dieses Ei verlor, das in die Welt fiel als Klumpen, als ihre laszive Laune, Gestalt aus ihren Sinnen geformt, von Schaum umgeben, verdichtetes Wünschen, Sehnen, Begehren, umtanzt von einer Riesin. Ich nenne sie „die Graue vom Berg“. Wenn ich so gehe bei Steinen, begleiten mich oft eine Art Traumgesichte. Auf meinem Seeweg ist es ein Findling, der verborgen im Schilfufer liegt, eine Sage erzählt von Lichterscheinungen an diesem Ort, mir ist manchmal, als sähe ich an seiner Rückseite eine Art von Gestalt, im Stein eingeschlossen. Sie ist nur manchmal sichtbar. Wenn ich sie sehe, nicke ich ihr zu und gehe meinen Weg weiter am Berg entlang. Ich gehe diesen Weg schon viele Jahre, aber ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich beim Hinfahren überdeutlich erkenne, daß der Berg etliche km weiter östlich aufragt … über meinem Seeweg ist nichts Steinernes, sondern ich gehe an einem kleinen Hügel entlang, einem Waldbuckel, wie wir sagen.

Ein Phänomen, dem ich manchmal begegne ist das, was ich im Stein eingeschlossen sehe. Ein österreichischer Bildhauer (Karl Prantl) hat davon gesprochen, daß ihn unzählige Augen aus dem Stein heraus anschauten, wenn er ihn bearbeitet hat. Bei mir sind es meist Gestalten. Sie sitzen oder liegen im Stein und schauen mich an oder haben kein erkennbares Gesicht. Warum ich da immer wieder etwas sehe, was andere offenbar nicht sehen, weiß ich nicht, ich frage auch nicht danach. Die Steine bleiben stumm, zumindest für Menschenohren. Ich habe Ahnungen, aber dafür gibt es keine Worte.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich vor ein paar Monaten. Wir fanden nach längerer Suche einen Steinkreis oberhalb eines Dorfes im Bayrischen Wald und gingen um die Steine herum. Der Ort hat eine schwere Vergangenheit … er scheint eine uralte kultische Stätte gewesen zu sein, auf der sich wohl auch später noch Menschen trafen und sich vergnügten, und angebliches Teufelszeug trieben. Eine schreckliche Geschichte: Frauen wurden der Zauberei bezichtigt und gefoltert und dann wurden zwei Frauen, eine war 13 Jahre alt, lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt im Jahr 1703.

Dieser Ort im Wald ist seltsam und die Gräuel dieser Vergangenheit legen sich wie ein schwerer Mantel über die Schultern, aber es ist auch noch was anderes in diesen Steinen, zu zwei Kreisen geformt, ein großer, zum Teil zerstörter und ein vollständiger kleiner Kreis. Und vom Mittelstein kam ein Sog, der mich hinzog zu ihm. Ein großer Stein, ein Felsbrocken, zwei tiefe Furchen, oder sind es Falten in der Zeit überkreuzen sich in seiner Mitte … die Energie ist so verdichtet, daß man sich wegreissen muß, um nicht hinauszuwirbeln in einen Zustand, fernab von Zeit und Raum … ich höre meine Freundin unablässig singen und komme zurück, von woher auch immer.  Als ich den Platz verlasse, drehe ich mich nochmal um und sehe sie. Die Graue im Stein. Sie sitzt im Mittelstein an der Hinterseite und merkwürdigerweise sieht sie genauso aus, wie die Figur, die ich mal vor vielen Jahren aus Ton geformt habe. Ein Mischwesen mit einer etwas unförmigen , schalenartigen weiblichen Gestalt und einem Vogelkopf mit großem Schnabel. Nie wusste ich so recht was anzufangen mit dieser Figur und hatte sie vergessen.

Fragen führen ins Leere. Ich schaute sie an und freute mich über die Begegnung.

Stein im Stein im Stein im Stein.

Steine sind stumme Lehrer.
Sie machen den Beobachter stumm,
und das Beste, was man von ihnen lernt,
ist nicht mitzuteilen.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Text:
Margarete Helminger