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24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 15 #Herr Ärmel

Mutmaßungen über das Deutschsein? Das heißt, den Mut aufbringen und Maß anlegen. An das Deutschsein. Ist ein deutscher Mensch in erster Linie Mensch oder Deutscher. Zu fragen ist, ob deutschsein ein kultureller oder ein politischer Habitus sei. Oder beziehen sich derlei Vermessungen auf nationale Bewertungen oder Übereinstimmungen?
In meinen frühen Jahren endeten solche Fragen eher in Anmaßungen, allenfalls vorerwachsene Überheblichkeiten. Früher oder später spürt man das selbst aufgeladene Kreuz dort, wo man sich mächtig vermessen, verhoben hat.

Deutschsein. Die Zugehörigkeit zum dem Volk der Dichter & Denker.
Und ebenso gehört dazu – das Volk der Richter & Henker. Und nicht bloß in vergangenen Zeiten.

Was Deutschsein meinen kann, und das heißt für mich das kollektiv kulturelle Gemeinsame, das habe ich im eigentlichen Sinn erst als Deutscher im Ausland erkennen gelernt. Nicht als Urlauber oder Reisender, sondern als Deutscher, der in anderen Ländern und überdies in anderen Kulturkreisen gelebt und gearbeitet hat.

Da haben sich mir Unterschiede gezeigt, die sich im kollektiven Verhalten und Benehmen auffällig erkennen ließen. Unabhängig davon, ob es sich um einzeln auftretende Menschen oder Gruppen gehandelt hatte. Aus der großen Zahl der selbst erlebten Beispiele nenne ich lediglich einige wenige beliebig aus.

Was den deutschen Urlauber von den Urlaubern anderer Nationen unterscheidet, ist die weit verbreitete Angst im Urlaubsland allüberall über den Tisch gezogen zu werden. Deshalb ist der deutsche Urlauber über die Preise im Urlaubsland bereits im Voraus bestens informiert. Man kennt die besten Schnäppchenquellen. Und feilscht und schachert selbst dann noch, wenn den einheimischen Anbietern und Verkäufern die blanke Armut ins Gesicht geschrieben steht. Überhaupt das liebe Geld.
Bisher sind mir in Hotelanlagen oder Orten mit besonderen Sehenswürdigkeiten lediglich Deutsche begegnet; bewaffnet mit kleinen Kameras, detektivisch gebückt auf der Suche nach herumliegendem Schmutz oder Unrat. Damit lässt sich beim Reiseveranstalter eine nachträgliche Preissenkung durchdrücken. Notfalls auch mit Nachdruck, der Drohung einer Veröffentlichung im Internet.

Fast noch wichtiger scheint dem deutschen Touristen, nicht für einen Touristen gehalten zu werden. Deshalb wird fast fieberhaft nach Orten gesucht, an denen sich keine Touristen aufhalten. Nur um dort auf andere Touristen zu treffen. Kommt man dabei versehentlich Einheimischen näher als man sich selbst das wünscht in Kontakt, zieht das anschließend in aller Regel entsprechende Kommentare und Wertungen nach sich.

Andererseits gelten deutsche Menschen als die spendenfreudigsten weltweit. Egal ob ein Tsunami an fremden Gestaden eine Küste wegbeißt oder in Ouagadougou eine Heuschreckenfamilie vom Baum gefallen ist – enorme Geldmengen fließen sogleich nach dem ersten Spendenaufruf auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen.

Und ich selbst. In Südamerika, Nordafrika oder Südosteuropa. Nicht ich wurde bewundert, sondern die Tatsache, dass ich Deutscher bin und dadurch vermutlich das Deutschsein verkörpert habe. Die bloße Erwähnung, Deutscher zu sein, war der Auslöser zu manchmal fast schon unangenehmen Lobesbezeugungen. Autos, Bach & Beethoven, strategisches Denken, Ehrlichkeit, Fußball, Goethe (in Südamerika hingegen Alexander von Humboldt), handwerkliches Können, Ingenieurskunst, Kultur, Perfektion, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Zuverlässigkeit usw. usf. Ein Wunderland mit wunderbaren Menschen. So will es scheinen.

Seit drei Jahren lebe ich wieder in Deutschland. Und gedenke dies auch weiterhin so zu halten. Welche Gegensätze zu dem Bild, das viele Ausländer haben, erlebe ich hier im alltäglichen Leben. Das Genörgel über Kleinigkeiten, die Besserwisserei, die Unzufriedenheit und die konsumierende Völlerei bei gleichzeitiger Schnäppchenjägerei in vielen Bereichen.
 Die vorgenannten zahlreichen positiven Aspekte zum Deutschsein, die mir von Arbeitskollegen, Bekannten oder Freunden anderer Nationalitäten in vielen Kommentaren und Bemerkungen aufgezeigt worden sind, machen mir die hier im Land oft so aufdringlichen negativen Äußerungen klein.

Herr Ärmel für das 24 T. Projekt der Frau Graugans

Text: Herr Ärmel
Blog: Herr Ärmel: Immer horsche immer gugge

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 14 #Bludgeon

Welcome to my nightmare

„Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga, dass schon damals meine Mutter sang“. Alexandra. Hit in Deutschland(West) in den 60ern. Erfolgreich re-recorded und zu Fernseh-Show-Ehren gebracht von Iwan Rebroff in den 70ern. Der war nicht mal Russe!
Wieso wird sowas Hit? In einem Land, das ansonsten das Russenfeindbild faktenunabhängig pflegt, wie nur was!
Die Zielgruppe des Schlagers war die „Generation Großdeutschland“. Musikalische Traumabewältigung. Heimgekehrt aus jenen Gegenden mehr oder weniger weit hinter dem Ural, zum Schweigen verdonnert, weil es eh keiner hören wollte, oder keiner mehr hören konnte. Weil man sich hätte klein machen müssen, wenn man wahrheitsgemäß erzählt hätte – und weil es ein großer bitterer Happen Biografie war, der da in einem nagt. Wenn Alexandra singt, siehst du dich wieder am Stacheldraht stehen, mit dieser Sehnsucht im Herzen, die man Heimweh nennt…
Und dann kamst du heim, aber so anders. „Du hast geschrien im Schlaf. In der Nacht bin ich aufgewacht, warum hast du geschrien?“ Den Kindern bist du ein Rätsel.
Den Eigenen, denen jegliche Erfahrung im Umgang mit diktatorischen Verhältnissen abgeht. Die via Auschwitzprozessen unvorbereitet auf die Schreckenskapitel jener Gröfaz-Zeiten stießen und nun naseweis, rechthaberisch den Familienfrieden kaputtdozierten, sich in eine Art neues Geißlertum hineinsteigerten, Buße einforderten und selber büßen wollten, ohne zu verzichten; mit ihrer Rechtschaffenheit hausierten; ihre frische Anfangserkenntnis ausbauten, bis sie in absoluter Selbstgerechtigkeit gerann.
Auch in Deutschland(Ost) war das Lied von der Taiga ein Hit und Alexandra ein Star, ganz ohne Airplay in DDRischen Medien. Hier, wo man Zugang zum Alexandrow-Ensemble hatte, wo jeder Pionier-Chor Russenlieder schmetterte, wo keine Fernseh-Show ohne „Kalinka“ denkbar war, fehlte die musikalische Variante des melancholischen Heimkehrersounds offiziell völlig.
Zunächst half der Klassenfeind im Äther: „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor“ schallte aus dem Westen herüber; Heidi Brühls „100 Mann und ein Befehl…“, Kuhlenkampfs zynische Anspielungen auf seinen „Freundschaftsbesuch in der Sowjetunion 1943“ und auf dämlichen Kadavergehorsam vor Ex-Generälen in „Einer wird gewinnen“ waren die Schenkelklopfer-Trostpflästerchen für die Davongekommenen (Ost), deren Erinnerungen auch hier nicht zum offiziell-gewollten Ton passten.
„Die Abenteuer des Werner Holt“ wurden 1960 zum Sensationsbuch, zur ostdeutschen „Blechtrommel“. Die Hitlerjungen von einst hatten nun eine Bibel. Sie wurde zur Pflichtliteratur und trotzdem gern gelesen bzw. als Film rezipiert, weil er sich angenehm abhob, von den MosFilm- und LenFilm-Produktionen der „Freunde“, die eher für das dortige Klientel bestimmt waren und den (verständlichen) Siegestaumel auskosteten. Der „Holt“ war ein äußerst glaubwürdiger Entwicklungsroman aus deutscher Mitläufersicht; also massenkompatibel. Pflichtfilm 10. Klasse.
Er stand mir also noch bevor, als ich anfang der 70er wiedermal mit auf Praxis in die Dörfer fuhr. Wir fuhren ins Wethautal hinunter und an der Kirche hatte irgendwer die Hecke drastisch gekürzt. Im Vorbeifahren kam ein Kriegerdenkmalkapitel zum Vorschein.
„Or, guckemal ein Nazi-Stahlhelm! Bei uns?!“, krähte ich, ca. 11jährig, Blitzerkenntnis bewegt los.
„Quatsch. Issn Denkmal fürn Erschdn Weltkrieg. Unse hatten die Helmform schon im erschdn Kriege. Außerdem war nicht jeder Nazi, der den im Zweeten offsetzen musste. Oder is dein Onkel Toni etwa’n Nazi?“
„Nee.“ murmelte ich kleinlaut, prompt die Silhouette des hutzlig kleinen Kettenrauchers vor Augen.
„Was hätter solln machen, wenner geholt wird zur Musterung? Wenn du 18 wirschd sein, holnse dich och zum Barras. Und dann? Marschierste mit. Oder willste über die Mauer klettern?“
Ich schwieg. Das Thema arbeitete weiter im Kopf. Ein 68er wurde nicht aus mir.

 

Text: Bludgeon
Blog: Toka-Ihto-Tales

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 13 #Christiane aus Hamburg

Deutsch sein. Fast so was wie eine Liebeserklärung.

Deutsch sein. Lange habe ich nachgedacht, was das für mich heißt. Deutscher Personalausweis, deutsche Muttersprache, in Deutschland (ehemals -West) geboren und aufgewachsen: kein Verdienst, reines Karma. Zwar an verschiedenen Orten im Land, aber nie für längere Zeit außerhalb gelebt. Und damit möchte ich sofort abstreiten, dass ich beurteilen kann, was deutsch ist, schon gar nicht »typisch deutsch«, denn das geht nur per Blick von außen. Sind Currywurst, Schuhplatteln oder Shantychöre typisch deutsche Erscheinungen, gibt’s das bei unseren Nachbarn in Nord, Süd, Ost und West nicht?
Ich mag also den Wald vor Bäumen vielleicht nicht sehen; aber ich weiß das wenigstens! Mir erscheint das meiste individuell oder regional bedingt. Eigenheiten einer Nation? Kann (und will) ich nicht festlegen.
Nation, noch so ein Wort. Spätestens da kommt nämlich die deutsche Geschichte ins Spiel, die gründlich verhindert, dass ich einfach mit den Schultern zucke und »Deutsch, ja, und?« sage. Es gibt nur das Gesamtpaket: Wer sich auf das Land der Dichter und Denker beruft, der muss (zum Beispiel) auch anerkennen, dass Deutschland mit der ihm (scheinbar) eigenen Strukturiertheit und Präzision in der jüngeren Geschichte ganz schön viele Henker hervorgebracht hat. Ich zumindest, als Kind eines in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts geborenen Elternpaares, kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Meine Eltern entließ der Krieg mit dem Stempel »Schuld« auf der Stirn und sie gaben ihn an mich weiter. Nationalstolz? Vor diesem Hintergrund schwierig.
Komm mir bitte keiner mit der »Gnade der späten Geburt«. »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«, rufe ich mit Brecht. Ich sehe das Pendel zurückschwingen und fürchte, dass gerade die aus der Vergangenheit gelernt haben, von denen ich hoffte, dass deren Saat verdorrt sei. Denn »Leiden läutert uns nicht, und durch Schaden wird man nicht klug. Nur gerissen«, erkannte schon Mascha Kaléko. Neulich erklärte ich einem Geflüchteten, dass es in Deutschland für fast alles Gesetze und Vorschriften gebe, deren Missachtung Sanktionen nach sich zöge. So bequem das ist und so nötig, wie es sein mag, es stimmt aber auch, dass der, wer für alles Regeln hat, nicht mehr selbst denken, sondern nur noch funktionieren muss. Wir hatten mal den mündigen Bürger als Ideal, war der immer nur ein Papiertiger? »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.«
Und dennoch, da ist eine tiefe Beziehung. Ich liebe meine Stadt, in der ich seit fast 30 Jahren lebe, ich mag, wie das Land sich anfühlt, die Farbe des Himmels und wie der Regen schmeckt, wie die Nordsee riecht und die Art, wie das Land platt ist. Die Art, wie die Leute hier oben lachen, und den trockenen Humor. Die Weitläufigkeit, von der ich gern glauben würde, dass sie die Menschen hier weniger engstirnig macht, aber vermutlich macht sie uns nur auf eine andere Art stur. Das Land drückt uns allen seinen Stempel auf und fährt uns in die Knochen, wenn wir es zulassen. Mein Blut hat vor Freude »Hier gehöre ich hin, hier ist es schön« gesungen, als ich zum ersten Mal nach Norddeutschland hineinfuhr, und ich bin überzeugt, meine ostpreußische Mutter dachte, diese Liebe hätte sie mir vererbt.
Ich bin typisch(?) deutsch: oft wenig spielerisch, ernsthaft und idealistisch, ohne jeden Zweifel. Ich bekenne mich zu meinem Erbe, das auf seine Weise leidvoll, bunt und wunderschön ist – wie in jedem Land der Welt.
»Mutter Erde hat viele Vaterländer«, heißt es, und Deutschland war noch nie eine Insel, das geht rein geografisch ja schon gar nicht. Hier sind im Laufe der Jahrhunderte viele
sesshaft geworden und in das »Deutschsein« eingeflossen. Ich jedenfalls weiß, dass ich von einem Gegenüber, sei es aus Deutschland oder dem »Ausland«, das mir (wie ich ihm) neugierig, offen, lächelnd und respektvoll gegenübertritt, nicht bedroht, sondern bereichert werde, und ich möchte zu gern, dass das »typisch deutsch« ist.

Text: Christiane aus Hamburg
Foto: Christiane aus Hamburg
Blog: Irgendwas ist immer

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 12 #Silvia Springer

Ob ich Mutmaßungen über das Deutschsein anstellen wolle, wurde ich ganz unverhofft von der lieben Graugans gefragt. Als Österreicherin übers Deutschsein schreiben?
Hitler verbindet unsere Nationen, gewissermaßen. Aber auch Rilke, nicht wahr? Diese zwei als „Österreicher“ geborene und oftmals als „Deutsche“ bezeichnete Menschen kamen mir als erstes in den Sinn. Leider und Gottseidank. So ist das halt. Wichtig ist: was ist JETZT. Und ebenso wichtig, wenn nicht fast noch wichtiger: was kann MORGEN sein?
Als Wienerin mit slowenischen Wurzeln (und anderen, mir nicht bekannten, wohl auch deutschen) wuchs ich auf und sprach als einzige in der Familie immer Hochdeutsch, warum, weiß ich nicht. Ich las einfach gern, da waren sehr viele deutsche Klassiker und Philosophen dabei, mein Denken wurde dadurch ebenso geprägt wie durch das Lesen österreichischer Literatur. Meine Mutter war ein wenig stolz auf ihre eloquente Tochter. Wenn ich besonders emotional war, konnte ich durchaus ins Wienerische verfallen (was ich auch heute noch tue). Ich liebte es, als Kind im Berliner Dialekt zu blödeln, den ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, der mir ge- und leichtfiel. Heute spreche ich ein wienerisch gefärbtes Deutsch, manchmal werde ich für eine Deutsche gehalten, im Zusammensein mit Deutschen merke ich allerdings, dass ich … Wienerin „bin“. Der Sprachduktus ist ein anderer, der Tonfall, die Sprachfärbung, die Geschwindigkeit, der „Schmäh“. Den guten Beziehungen zwischen uns tut dies allerdings keinen Abbruch, die Unterschiedlichkeit wird auf beiden Seiten geschätzt. Diese gegenseitige persönliche Wertschätzung verbindet uns.
In den österreichischen Bundesländern wird der Wienerische Dialekt nicht sonderlich gemocht, obwohl es da durchaus Anhänger gibt – nichts und niemand lässt sich im Grunde pauschalieren. Andererseits gibt es großartige Wiener Mundartdichtung und Musik (alt und neu), das Wiener Deutsch ist halt ur-lässig. Ein Sing-Sang, selbst ohne Musik. Man muss sich drauf einlassen, um es lieben zu lernen (oh, ist das nicht bei allen Dingen so?), wenn man andere Vorstellungen von Schönheit, Klarheit, und Aussagekraft von Sprache, explizit von deutscher Sprache hat.
Übers Deutschsein schreiben, wenn man Probleme damit hat, „Österreicherin“ zu sein? Nicht mit dem Ort der Geburt, sondern mit den Implikationen dieses Österreichisch- oder Deutschseins, ebenso des Amerikanisch- oder Asylantseins, des Gastarbeiterseins, oder welchen expliziten Seins auch immer. Ich hatte schon immer ein Problem mit Etiketten, glaube ich.
Diese können nützlich sein, zwecks Identifizierung. Denn bei aller Einzigartigkeit bilden wir Gruppen, die dann eben auch ihre Eigenheiten entwickeln, dürfen, sollen. Es ist schön, Traditionen zu haben, ihnen bis zu einem gewissen Grad zu folgen, um ab einem anderen Grad von ihnen abzuweichen, wenn sie dem Leben nicht mehr dienen, oder vielmehr der Lebendigkeit, die das Leben mit Sinn(en) erfüllt. Deutschsein, Österreichischsein, Europäischsein, und alle anderen ethnischen, ethischen usw. Seins … all diese Konstrukte wachsen mit. Etwas Neues entsteht. Was uns verbindet, ist das Menschsein. Wir werden geboren, wachsen, leben, sterben.
Übers Deutschsein kann ich nicht viel schreiben. Ich habe über die deutsche Korrektheit, die Genauigkeit, die Strebsamkeit usw. gehört und gelesen. Bin vielen Deutschen über den Weg gelaufen, habe den Ballermann ein einziges Mal kurz gestreift, mich gleichermaßen über Schnitzelesser im Ausland geärgert, erkannt, dass es einen Riss gibt zwischen Ost und West (auch bei uns in Österreich), sah das kollektive Schuldbewusstsein der Nachkriegsgeneration(en) – bin nicht sicher, ob das in Österreich ebenso stark ausgeprägt ist – in Bezug auf den zweiten Weltkrieg ebenso wie den Versuch einer Vergangenheitsbewältigung und verfolge mit Sorge die neueren politischen Entwicklungen, ohne zu vergessen, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Alles vor dem Hintergrund einer Kultur, die von Geistern wie Kant, Hegel, Goethe, Schiller und wie sie alle hießen geprägt wurde. Gesehen von mir als Einzelperson in einem von Geistern vieler Völker geprägten Land. Als „echte Wienerin“ (= eine Mischkulanz aus vielen Ethnien, eine „Wiener Mischung“ eben) bewege ich mich da auf unsicherem Terrain. Entdecke allerdings genau darin die Möglichkeit einer neuen Freiheit.
Was mich wirklich interessiert ist, sind vor allem das Individuum, die Individuen, die Situationen, Verhältnisse, welches, welche vor mir steht, stehen, mich umgeben, denn … oh, wie schrecklich von mir: ich bin das Zentrum meiner Welt.
Und erkenne: Ich bin schlicht und ergreifend nicht allein. Den uns umgebenden Raum, sei es nun in einem Zimmer, einer Wohnung, im Haus, im Dorf, der Stadt, dem Land, dem Kontinent, den Meeren, auf weiteren Kontinenten und dem Himmel über uns … den bewohnen wir mit anderen, wenigen und vielen, sehr, sehr vielen. Wir sind wer, wir haben Einfluss, wir verändern uns und irgendwo, irgendwo bleiben wir auch gleich. Wovor also Angst haben? Was geht denn wirklich verloren? Nichts.
Ich bin weniger besorgt um Traditionen, die scheinbar verschwinden, weil einige Gruppen kleiner und andere größer werden. Das Verschwinden der Menschlichkeit in den Menschen kümmert mich mehr. Denn nur diese lässt Vielfalt zu, Aspekte dieser Vielfalt sind das so genannte „Deutschsein“ oder „Österreichischsein“ oder … so viele unterschiedliche Seins, in einer Welt.
Es geht nicht ums Gleichmachen vieler Verschiedener, sondern darum, dass so viele verschiedene Gleiche denselben, wirklich denselben Raum bewohnen.
***
Ich konnte dem Ruf der Graugans nicht widerstehen, obwohl mir schwante, dass mein Kopf rauchen würde, wenn ich mich darauf einließe. Ich tat es dennoch, denn ich spüre eine tiefe Verbundenheit (zur Welt) und Hoffnung (egal, ob ich mit meinem Text nun scheitere oder nicht), die sich gründet auf Vertrauen in die Menschlichkeit in uns allen.

Text: Silvia Springer
Blog: Die Springerin

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 11 #Riffmaster

„Au weia … was ist denn das für ein Thema … gleich als ich diese Fragestellung „Mutmaßungen über das Deutschsein“ das erste Mal hörte,  wurde mir ein wenig schummrig. Und irgendwie wollte ich mich ja vor diesem Thema drücken, denn es ist ein Thema, das bei mir viel Unbehagen auslöst.

Spontan fiel mir dann das folgende Zitat ein:  „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“  … viel überheblicher konnte man ja kaum dieses nationale Überheblichkeitsgedusel zum Ausdruck bringen und ich packte dieses Zitat direkt in die Nazi-Ecke.

Weit gefehlt ! Denn, zum einen heißt dieses Zitat ja eigentlich „… und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen!“ und entstanden sind diese Zeiten 1961 im Rahmen des Gedichtes „Deutschlands Beruf“; der Verfasser war ein gewisser Franz Emanuel August Geibel (17.10.1815 – 06.04.1884). Anlass für dieses Gedicht war sein Wunsch, dass aus all den damaligen deutschen Einzelstaaten ein vereinigtes Deutschland (freilich unter der Führung des Kaisers) entstehen möge. Und mit diesem Wunsch verband er die Hoffnung, dass daraus eine neue Friedensordnung entstehen möge, von der auch andere Völker profitieren sollten und könnten. Mag ja naiv gewesen sein, aber die von mir unterstellte Überheblichkeit relativierte sich doch stark, nachdem mir die Hintergründe dieser Zeilen bewußt wurden.

Dass spätere Generationen aus dem Wörtchen „mag“ dann dieses „soll“ machten, dafür kann der Autor nun wirklich nichts. Und dass dieses Zitat später auch mal als Ausdruck deutscher Arroganz verwendet wurde, ist ja nun auch nicht von der Hand zu weisen.

Na ja und dann diese berühmten Heinrich Heine Worte: „„Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ (entstanden 1844, quasi am Vorabend der deutschen Revolution von 1848). Sie drücken für mich bis heute jene Empfindungen aus, die mir bei meinen Mutmaßungen über Deutschland sehr nahestanden.

Skepsis, große Skepsis, wenn ich da an mein Heimatland denke. Und vordergründig auch kein Wunder, gehöre ich doch zu jener Generation, die sich schmerzlich bewusst zu machen hatte … welche Greueltaten von deutschem Boden ausgingen.

Aber auch dieser Argwohn ist ja eigentlich nur auf dem ersten Blick gerechtfertigt. Öffnet man seinen Blick auf dieses Thema, so kann man durchaus – und da muss man nicht allzulange nachdenken – feststellen, dass “wir Deutsche“ ohne weiteres hervorragende und unser Leben prägende Persönlichkeiten hatten und wohl auch haben. Damit meine ich nicht dieses „Land der Dichter und Denker“ (auch diese Formulierung löst ihn mir Unwohlsein aus), sondern damit meine ich alle jene Menschen, die mit ihrer z.T. radikalen Entschiedenheit dazu beigetragen haben, Gegenentwürfe zu all jenen Barbareien in der Menschheitsgeschichte zu entwickeln, die mich heute noch bewegen, berühren. Und spontan wandern meine Gedanken zu einer Rosa Luxemburg …

Und dennoch: mein Widerwille bleibt, denn in der Fragestellung steckt ja auch die Vermutung es gäbe ein „Deutschsein“. Und das bringt mich dann unwillkürlich zu diesem Theo Sommer, dem damaligen Herausgeber der „Zeit“, der da 2006 schrieb „Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte“. Diese deutsche Leitkultur impliziert ja, es gäbe auch eine italienische, französische oder britische Leitkultur.

Das Gegenteil ist der Fall.  Eigentlich bedeutet die Auseinandersetzung mit „deutscher Leitkultur“:

Für Deutschland muss die Leitkultur der Integration betont europäisch sein. Ihr liegen die folgenden zentralen europäische Werte zu Grunde: Trennung von Religion und Politik, Demokratie, Menschenrechte, religiöser und kultureller Pluralismus und Zivilgesellschaft. (Bassam Tibi; der stammt aus Damaskus und war damals, als er diese Zeilen in der Welt veröffentlichte – also 2002 –  Professor für Internationale Beziehungen an der Georg-August-Universität Göttingen)

Bringen mich diese Überlegungen weiter ? Komme ich damit der ursprünglichen Fragestellung näher ? Ich befürchte nein … Meine Mutmaßungen über das Deutschsein führen mich in die Sackgasse … aber zumindest dies bleibt bei mir hängen: Auf den Blickwinkel kommt es an und mein Blickwinkel ist und bleibt ein Blickwinkel der an Humanität und sozialer Gerechtigkeit orientiert ist … und da haben Menschen aus deutschen Landen doch so einige wichtige und wohl auch entscheidende  Impulse geben können.

Und ein jeder sei aufgefordert, welche der gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland für ihn eine besondere Relevanz haben … denn mit diesen Entwicklungen sind auch immer besondere Persönlichkeiten verbunden. Persönlichkeiten, die dann Teil der „Mutmaßungen über das Deutschein“ sein können.

Text : Riffmaster

Blog: Sammelsurium

Blog: Many Fantastic Colors

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 10 #Nora Gomringer

Wie klingt eigentlich Deutsch?

Hier knackt es, gähnt es, jault und hängt etwas. Eine konsonantische Liaison versperrt einem den Rachen und unaufhörlich bellt es. Man wiehert und knattert, klemmt, krächzt, hustet und blökt. Man surrt, summt, schleckt und prustet-pustet. Ein ständiges Streitgespräch zweier Halskranker. So klingt Deutsch. In den Ohren französischer Partisanen in Tarantino Filmen allemal. Wenn ich aber mein Ohr ganz fest an Heines Winterreise presse, dann klingeln Schlittenglocken heraus und ein Wanderstab, der auf dem noch nicht geteerten Feldweg aufsetzt. Regelmäßig, vom Schnee gedämpft, ist das Geräusch. Schüttle ich Grass’ Liebeserklärung der Grimmschen Wörter, dann krach-pengt es hervor aus dem Schlagwerk des Tourbegleiters Baby Sommer, des Jazz Drummers, der den Grass seit dem Butt in Musik und Schall und Klang neben dem Rauch aus des Meisters Pfeife wandeln kann wie keiner sonst. Das Wispern von Liebesschwüren weht aus abertausenden von Schriften, original und übersetzt und im Deutschen klingt ich liebe dich genauso schön (bedrohlich) wie in jeder anderen Sprache. Das dialektale I mog di (Bayerisch) oder das fremdsprachliche Ich ha di gern (Schwiizerdütsch) aus den Liedtexten von La Brasbanda oder des Holsturner Music Big Band Club, den Schriften Pedro Lenz’ oder Beat Sterchis lassen Seufzer zu. Die gehören auch ins deutsche Sound-Vokabular. Wir Deutschen seufzen gerne. Bei Kleist noch bis zur Ohnmacht, heute bevor wir ansetzen und Reden schwingen. Offizielles passt zu unserer Sprache. Wir wissen ja, dass man sie mit Pferden sprechen kann, während Französisch, Spanisch und Italienisch bei Gott, Männern, und den Frauen angewendet wird. Nun sind Pferde ja durchaus geduldige Zuhörer und seit Monty Roberts uns auch die non-verbalen Dialekte der Pferde gelehrt hat, muss man sich nicht mehr verstecken, wenn einer wiehert, wir wären einfach zu deutsch in Ton und Gebaren. In Amish Country gibt es diese Kategorie nicht. Da ist zu deutsch Brauchtumspflege und der Slogan „Mer schwetze noch die Muddersprooch“ ist in aller (noch so zahnloser) Munde. Dass das harte Deutsch vor allem aus dem einen Munde die Massen verführen, belügen konnte, das war die weltweit unerwartete Folge abgestumpfter Akustik. Die Ohren waren noch taub vom Lärm der ersten Bomben. Eine ganze Sprache, um vieles schrecklicher als das Phänomen, das aus dem Klemperer’schen Buche wie aus dem Weltempfänger schnarrt. Es ist der zarten Selma, der klugen Nelly, der weltumspannenden Rose zu danken, dass wir das Deutsche wieder zum Denken urbar machen konnten. Manch einer liebt das Deutsche heute gar so sehr, dass er es unterschätzt, das Kind bei der Hand nehmen möchte, d.h. ihm Reinheitsgebote aufstellt, bevor es – unkenbeschworen- in den Brunnen fällt. Die Deutschen – so viel sie schwarz malen- lieben Brunnen, vor allem die vor Toren und wenn ein paar Toren darum herum zu stehen kommen…auch gut. Sitzen doch in fast allen Zisternen verzauberte Prinzen, die das Kindlein schaukelnd wieder ans Licht zu bringen verstehen. Das Deutsche ist elastisch – Gottlob! Hat uns fast verziehen nach zwei Kriegen und ein paar Dudenausgaben. Die Reparation war lediglich der Verlust besonders entfremdeter Abstrakta à la Blut, Boden, Erde, Volk. Das Deutsche behalf sich, fand den Durchgang durch die eigenen Antwortlosigkeiten, die Celan ihm zusprach, lässt aber seit jeher Einflüsse zu, schwappt stets weiter, wird ein Sprachfluss mitreißender Qualität. Modern ist es dadurch, nützlich und charmant-verquer, für manchen kaum erlernbar: die Rübe und das Fräulein! Es schenkt uns irre Silben wie das Him- der Beere und den -ling, der schmettert. Die Schönheit der Summe, des Herzens, das Legato des aufgegangenen Mondes, das rollende Rrrrr des Brotes, das Abendrot, das Spitze der spitzen Steine des Nordens und die Schnauze der Berliner. Wir sind so herrlich aufgeplustert, wir deutschen Deutschsprecher. Und gackern dabei zu selten. Deutsch klingt manchmal nach allem, was es sein kann: Sprache und Aufbewahrungsort und Musensang. Das sagen auch meine Eltern und die sprechen es länger als ich.

Nora Gomringer – ersch. in „Ich bin doch nicht hier, um sie zu amüsieren“ 2014 – Voland & Quist

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 9 #Christian Nürnberger

Mutmaßungen über das Deutschsein

Ich war sieben, als ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben habe weinen sehen. Es war im Wohnzimmer des Dorffriseurs, der zu jener Zeit in Bayern noch Bader genannt wurde. Im Sommer 1958 zählte er zu den ganz wenigen im Dorf, die schon einen Fernseher hatten. Davor versammelten sich rund ein Dutzend Männer – Arbeiter, Bauern, Handwerker und ich – um das Spiel der Deutschen im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Göteborg zu sehen. Wir verloren 3:1 gegen Schweden, schieden aus, und da kamen meinem Vater die Tränen. 

Zwei Jahre später saßen wir wieder beim Dorfbader. Diesmal spielte Eintracht Frankfurt gegen Real Madrid im Endspiel um den Europapokal. Die Frankfurter gaben alles, verloren trotzdem spektakulär 7:3. Mein Vater weinte. Und diesmal auch ich. Damals beschloss ich, Nationalspieler zu werden und für meinen Vater den Europapokal und den Weltmeistertitel zu holen.
Das Schicksal führte mich dann, mangels fußballerischem Talent, auf andere Pfade, aber seit diesen Erlebnissen beim Dorfbader vermute ich: Damals muss es begonnen haben, mein Deutschsein. Fußball spielt offenbar eine ganz wichtige Rolle bei der Entstehung von Heimatliebe, Patriotismus, Zusammengehörigkeitsgefühl. 

Das wilde Geschrei der sonst vernünftigen Arbeiter, Bauern und Handwerker im Wohnzimmer des Dorfbaders, der Jubel und das Stöhnen und zuletzt die Tränen des eigenen Vaters, das alles war nötig, um in dem siebenjährigen Jungen etwas zum Keimen zu bringen und im Lauf der Jahre reifen zu lassen, was mit dem geschundenen Wort Patriotismus gemeint ist: der Glaube an die Existenz einer Gemeinsamkeit, die dich mit den anderen verbindet. This land is your land, this land is my land …

Der Glaube an so etwas wie eine nationale Gemeinsamkeit ist natürlich problematisch, das ist mir wohl bewusst. Die Gemeinsamkeit eines deutschen Managers oben in der Vorstandsetage der Deutschen Bank in Frankfurt mit einem deutschen Penner, der unten vor dem Gebäude auf dem Boden sitzend die Hand aufhält, dürfte ungefähr gleich Null sein. Mehr als mit dem Bankvorstand verbindet den Frankfurter Penner mit einem Penner in New York. Und mehr als mit dem Frankfurter Penner verbindet den Frankfurter Bankvorstand mit einem Banker in der Wall Street. Der Riss durch die Menschheit verläuft nicht zwischen Völkern und Nationen, sondern zwischen oben und unten.

Die Mehrheit unseres Landes teilt die Ansicht, dass dieser Riss nicht zu tief, die Kuft zwischen oben und unten nicht zu groß werden darf. Bank-Söldnern, die ihre Loyalität an den jeweils höchsten Boni ausrichten, mag der Gedanke fremd sein, dass es über die Gegensätze von Nationen, Klassen, Rassen und Geschlechtern hinweg etwas alle Menschen Verbindendes gibt, das sich auf das Leben und den Alltag jedes einzelnen spürbar auswirken sollte – genau dieser Gedanke ist einer der zentralen Ideen unserer westlichen Wertegemeinschaft.
Das ist eine abstrakte Idee, die nicht dadurch real wird, dass man sie Kindern als Lehrstoff einbläut oder die Welt damit bepredigt, sondern nur durch eigenes Erleben. Kinder müssen die Idee in ihrem Leben erfahren, und ich habe sie als Kind erstmals erfahren vor dem Fernseher beim Dorfbader.

Und so fragte ich mich natürlich später, ob das bei meinen Kindern heute wohl auch noch so funktioniert? Das war in jenen Tagen, die in unserer Geschichte unter „Deutschland, ein Sommermärchen“ firmieren, gemeint ist die Fußballweltmeisterschaft 2006. Da saß ich mit Ehefrau, 13-jährigem Sohn und 16-jähriger Tochter zu Hause vor dem Fernseher und wunderte mich. Meine Kinder hatten sich zuvor noch nie für Fußball interessiert. Jetzt auf einmal sahen sie zu und nur wenige Spiele später guckten sie nicht mehr daheim mit ihren alten Eltern, sondern mit ihren Freunden beim Public Viewing.

Heute bin ich überzeugt, dass diese Weltmeisterschaft 2006 für meine Kinder und vielleicht für deren ganze Generation gerade zur rechten Zeit kam, denn wir politisch korrekten Eltern haben ihnen – was unser Land betrifft – nichts erspart. Jeden Kinofilm über Hitler, jede Fernsehdokumentation über das Dritte Reich mussten sie mit uns ansehen, immer wieder drehten sich Gespräche um jene zwölf Jahre deutscher Geschichte, die alles veränderten und die ganze Geschichte davor zu negieren schienen.

Ihr seid nicht schuld, sagten wir ihnen. Wir, eure Eltern, auch nicht. Aber eure Großeltern und Urgrußeltern, die sich zwar nicht aktiv an den Schikanen gegen Juden beteiligt, jedoch geschwiegen hatten, die waren mitschuldig. Daher haben wir, wenn wir auch keine Mitschuld tragen, aber doch eine Verantwortung dafür, dass diese zwölf Jahre nie vergessen werden, damit sie sich niemals mehr wiederholen können. Wir haben unseren Kindern von Anfang an viel erzählt von diesen schlimmsten zwölf Jahren unserer Geschichte, vielleicht zu viel.
Wir hatten ihnen auch „Das Leben ist schön“ gezeigt. In diesem von manchen als verharmlosend gescholtenen Film spielt Roberto Benigni einen italienischen Juden, der mit seinem fünfjährigen Sohn von den einmarschierenden Deutschen in ein KZ gebracht wird. Um seinem Sohn den Schrecken zu nehmen, gaukelt der Vater ihm während der ganzen Zeit vor, es handle sich dabei nur um ein Spiel, bei dem es am Ende einen Panzer zu gewinnen gebe. Der kleine Junge erlebt die Befreiung des KZ, überlebt, der Vater wird kurz zuvor erschossen. Dies war der Augenblick, in dem meine Kinder ihren Vater zum ersten Mal weinen sahen.
Darum verstand ich die Begeisterung meiner Tochter über das Leben in den Fanmeilen. Dort traf sie auf Engländer, Schweden, Holländer, Franzosen, die ihr nicht die deutsche Vergangenheit vorhalten, sondern mit ihr eine große Party feiern wollten. Es war auch das erste Mal, dass englische Zeitungen in ihren Berichten über die Spiele fast ganz ohne die Wörter „Nazi“, „Blitzkrieg“, „Panzer“ auskamen. Auch holländische, italienische und französische Kommentatoren schrieben über die Deutschen freundlich wie noch nie.
Endlich mal von Italienern und Franzosen so geliebt werden, wie wir sie lieben; endlich mal von Engländern und Holländern nicht mehr die Nazikeule übergebraten zu bekommen – war das jetzt die Zeit, in der sich diese Sehnsucht erfüllen würde? Vielleicht hatte ja diese WM tatsächlich eine ähnliche Wirkung wie das „Wunder von Bern“, der Sieg der Deutschen bei der Weltmeisterschaft 1954, der als unsere Rückkehr in die internationale Völkerfamilie interpretiert wurde.

Noch einmal nahe dran an so einem Moment, an dem die Deutschen in der Welt nicht mehr gefürchtet und auch nicht mehr gehasst werden, waren wir im Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise. Die Ankunft der Flüchtlinge aus den Notstands- und Kriegsgebieten in Deutschland war zwar etwas anderes als der Fall der Mauer in Berlin, in seiner historischen Größe geringer und weniger bedeutend, aber doch auch ein großer Moment in der Geschichte der Bundesrepublik.

Da kamen täglich zu Hunderten und zu Tausenden völlig erschöpfte, verarmte, vom Krieg gezeichnete Menschen im Münchner Hauptbahnhof an und wurden von den Münchnern freundlich empfangen, versorgt, untergebracht. Polizisten beugten sich zu Kindern und schenkten ihnen Spielzeug, Plüschtiere, Süßigkeiten. Zu Hunderten meldeten sich freiwillige Helfer, die Beamten der Stadt München machten Überstunden, Turnhallen wurden umfunktioniert, Zelte aufgebaut, medizinische Versorgungsstationen eingerichtet, ehrenamtliche Helfer arbeiteten bis zur Erschöpfung, und kurze Zeit später war das in ganz Bayern und ganz Deutschland so. Tausende ehrenamtlicher Helfer und die Verwaltungen arbeiteten am Limit. SPD-Wähler arbeiteten mit CSU-Wählern Hand in Hand. CSU-Bürgermeister und SPD-Landräte packten gemeinsam an, um die ungeheure Herausforderung zu bestehen.

Aber über allem schwebte schon von Anfang an die bange Frage, wie das weitergehen soll. Welche Probleme werden wir uns damit einhandeln, werden wir so viele Menschen, die kein Wort Deutsch sprechen, integrieren können? Haben wir nicht schon jetzt genügend Probleme mit misslungener Integration? Wer kommt da eigentlich zu uns?

Und darauf antwortete für alle überraschend die Kanzlerin: „Wir schaffen das“ – die deutsche Antwort auf Obamas „Yes, we can.“ Die Deutschen bekamen damit ein neues Bild von ihrer Kanzlerin, die Welt ein neues Bild von den Deutschen und diese ein neues Bild von sich selbst.

Es habe „uns die Tränen in die Augen getrieben vor Dankbarkeit, dass Deutschland jetzt dieses andere Gesicht zeigt“, sagten Christine und Rainer Roth, ein bayerisches Anwaltspaar, das damals Urlaub machte in Frankreich, nicht weit entfernt von Oradour, dem Dorf, dessen Bewohner 1944 von einer Einheit der Waffen-SS massakriert wurden, und daher besonders sensibilisiert war für die deutsche Willkommenskultur. So las man das damals in der SZ. „Man kann in Europa in fast kein Land fahren, wo nicht in deutschem Namen ungeheures Leid verursacht worden ist“, sagte Christine Roth. Damit beschrieben sie eine Stimmung, von der damals die Willkommenskultur getragen wurde in Deutschland.

Wir wissen, was daraus geworden ist …

Und wir kennen es schon. Wiederum vom Fußball. Zwei Jahre nach der Weltmeisterschaft 2006 wurde in Deutschland die Europameisterschaft ausgetragen. Besonders erinnere ich mich an das Spiel der Deutschen gegen die Türkei. Vielen war ein wenig bang. Manche malten sich aus, dass es zu Schlägereien zwischen deutschen Neonazis und türkischen Fans kommen könnte.

Die Medien nährten solche Befürchtungen mit entsprechenden Berichten. Türkische Zeitungen schrieben von „deutschen Panzern“. Faruk Sen, der Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen, hatte die gut fünf Millionen Türken in der EU als „die neuen Juden Europas“ bezeichnet. In Berlin-Kreuzberg wurden vor dem Spiel die Reifen von Autos mit türkischer Flagge zerstochen.

Dann begann das Spiel und endete mit einem 3:2-Sieg der Deutschen, im Stadion weinten die Türken, aber kurz danach feierten sie auf den Straßen mit den Deutschen ein Fest. Viele Autos, die hupend durch deutsche Städte fuhren, hatten sich die deutsche und die türkische Flagge an die Fenster geklemmt. Das war auch schon bei der WM 2006 so, an der die Türkei gar nicht teilnahm. Da flatterten an vielen Kebab-Läden und Dönerbuden schwarz-rot-goldene Fähnchen.

Und ich dachte: Wir haben es geschafft. Das Zusammenleben der Biodeutschen mit den vielen Minderheiten ist auf einem guten Weg. Dann betraten jene Pegidioten das Feld, die sich „patriotische Europäer“ nennen und doch nichts weiter sind als die Nachfahren jener falschen Patrioten, die unter ihren SA- und SS-Stiefeln das Ansehen der deutschen Kulturnation so gründlich zertrampelten, dass sich Deutschland noch heute nicht erholt hat davon. Und nun trampeln sie wieder.
Den Fußball sollte man also nicht überbewerten. Wie unangemessen die gerne konstruierten Parallelen zwischen Fußball und nationalem Schicksal sind, lehrt ein Blick zurück in die Zeit, als ich meinen Vater weinen sah. Nach dem vorzeitigen Ausscheiden der Deutschen 1958 in Schweden herrschte zwar Katzenjammer im ganzen Land, aber für das weitere Schicksal der Nation hatte die Episode keinerlei Bedeutung.

Der Wirtschaftswundermotor war gerade angesprungen, drehte sich unbeeindruckt von den Ereignissen in Schweden immer schneller und mit immer mehr Kraft, was im Lauf der Jahre einen stetig wachsenden Wohlstand schuf, obwohl wir auch 1962, 1966 und 1970 nicht Weltmeister wurden. Nur Export-Weltmeister wurden wir immer und immer wieder und sind es bis heute.

Andererseits: Komisch ist es schon, dass der Abstieg der bayerischen Staatspartei CSU zur Regionalpartei einhergeht mit dem Niedergang des FC Bayern München, und Seehofer und Hoeneß sich fast zeitgleich zu peinlichen Figuren entwickelt haben, deren Zeit vorbei ist. Und ist es nicht geradezu tragisch, dass auf die vergeigte Fußball-WM unserer Nationalmannschaft die Kanzlerindämmerung folgte und wir Löw und Merkel auf einen Schlag verlieren?

Schade eigentlich.

Text: Christian Nürnberger

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 8 #Katja Schraml

liebe gretl,

es wird nix mit mir – der text will sich nicht schreiben – alles was ich für dich hab ist 1 satz, du schaust mal, ob es passt.

Wind, gschwind, 

Wind, gschwind, feg Verstand übers Land, 

Wind, gschwind, die Leit ham ihr Hirn verlorn.

 

das deutsche ist mir doch am ende fremd, mutmaß ich mal.

liebe grüße
katja

 

Text und Bild: Katja Schraml
Blog: Kaschpar

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein Tag 7 #Jan Kuhlbrodt

Ist hier jedes rechthabende Wort falsch? Aber gibt es linkshabende linkische Wörter auch? Sprechen sie in der Pause?

Peter Waterhouse in Equus – Wie Kleist nicht heißt

Was ist Deutsch? Für mich?

Eine Frage, die mich in Verlegenheit bringt, weil: ich weiß es nicht. Das Wort, der Begriff? hat über die Jahre, in denen ich damit umging oder vielmehr den Umgang damit beobachtete, seinen Charakter und seinen Inhalt eins ums andere Mal verändert; mir scheint, es ist zuallererst ein Spiegel für die Position dessen, der es benutzt. Und ein Bild für die gesellschaftliche Umgebung, in der es benutzt wird. Gut erinnere ich mich noch an die Verrenkungen, die sprachlichen, die die Ideologen in der DDR betrieben, um dem Deutschen eine irgendwie progressive Note zu verleihen.

Meine Schwierigkeit folgt also gar nicht aus eigenem Deutschsein, denn das bleibt weitgehend unbestimmt, sondern im Hinblick auf eine Abgrenzung. Egal ob man das Wort polemisch für für das schlechthin böse nimmt, oder ob man es gebraucht, um seinen kümmerlichen Stolz zu füttern: Deutsch ist alles, was nicht nichtdeutsch ist.

Hier aber läuft der Gedankentanker schon auf Grund, es sei denn, ich würde das Deutsche als das schlechthin Andere mir Fremde bestimmen. Damit hätte ich meinen Hals natürlich aus der Schlinge gezogen. Elegant? Und by the way alle Verantwortung für deutsche Untaten von mir gewiesen. Aber, und hier beginnen die Schwierigkeiten, ich habe diese Abkehr in deutscher Sprache formuliert. Es ist wahrscheinlich das Einzige, was unstrittig deutsch ist. Meine Fessel also, an mein Deutschsein. Die Sprache! Und es wäre zum Verzweifeln, läge diese als reine Sprache vor, als bestimmte Anzahl eindeutiger Vokabeln, die nach einem festen grammatischen Regelwerk gefügt werden und eine entsprechende Anzahl sinnvoller Sätze zuließen. Ein abgegrenztes Sammelgebiet, wenn man so will, denn alles Sagbare wäre damit bestimmt. Trüber Gedanke!

Zum Glück aber ist die Sprache allen Sprachbewahrern zum Trotz eine dynamische Angelegenheit und sie ist Formbar. Wir sind also in der Lage, die Köpfe aus der Schlinge zu ziehen, die wir sprachlich um unsere Hälse gelegt. Und wir sollten es tun.

 

Text: Jan Kuhlbrodt
Blog: Postkultur

 

24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 6 #Formatikus

Vielleicht das – Hier, wir. Es ist ein gutes Gefühl verortet zu sein, Wurzeln zu schlagen, zu blühen gar. Wir verbindet, trennt leider auch. Wir, Uns, Von Hier, Ihr. Deutschsein also? Ach! Es ist anders bei Tage, anders bei Nacht. Am Tag bestimmen den Takt die Straße, der Nachbar im Haus, die Stadt. Deutschsein hat Gestalt, hat Farbe, hat Klang. Nicht so bei Nacht. Die Konturen verschwimmen, die Farbe vergraut, verstillt der Klang. Unterm Sternenglanz, ein wenig glänzend selbst, nachts ist man nicht mehr als nur ein Mensch. Hier Sein – das vielleicht!

Text: Milo
Blog: Formatikus